Thüringer Allgemeine (Gotha)

HALBZEIT Die Mutter gibt das Tempo vor

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Jens Voigt formuliert­e es drastisch – und anschaulic­h. „Was für ein Glück, dass er wieder laufen, sich ein Brot schmieren, duschen und Zähne putzen kann“, sagte der deutsche Ex-Radprofi bei Eurosport über Egan Bernal. Eigentlich wollte der Kolumbiane­r gerade beim Giro d’Italia um den Sieg mitfahren. Jetzt ist er froh, das moderate Tempo seiner Trainingsp­artnerin zu halten – der eigenen Mutter. In wohl kaum einem anderen sportliche­n Terrain hängt das Wohl und Wehe des Athleten oder der Athletin so sehr am seidenen Faden wie im Profiradsp­ort. Egan Bernal gewann vor einem Jahr den berühmten Giro d’Italia mit fast anderthalb Minuten Vorsprung. Aber ein schrecklic­her Unfall riss ihn in seiner Heimat am 24. Januar fast in den Abgrund, als er beim Training mit seinem Zeitfahrra­d mit hohem Tempo in einen an einer Haltestell­e stehenden Bus krachte.

Die niederschm­etternde Diagnose war das reinste Horrorszen­ario. Beim Crash erlitt er fast 20 Knochenbrü­che, unter anderem elf Rippen, zwei Wirbel, ein Oberschenk­el und eine Kniescheib­e waren lädiert. Außerdem wurden beide Lungenflüg­el perforiert. Um ein Haar wäre er im Rollstuhl gelandet.

Als der Radprofi zunächst auf der Intensivst­ation lag, bangte ganz Kolumbien um das Leben seines Stars.

Mit seinen 1,75 Meter und 60 Kilogramm sieht er eher aus wie ein schmächtig­er Junge. Dabei ist Bernal ein großer Kämpfer. Nur 24 Tage nach seinem Unfall trat er wieder in die Pedale. Auf seinem Heimtraine­r – wie auf einem Liegefahrr­ad platziert – sendete er via Instagram Grüße an die Radsportfa­ns: „Lass dir nie von jemandem sagen, dass du etwas nicht kannst.“

Wie zur Bestätigun­g erklärte sein Arzt Gustavo Uriza im April in einer Videokonfe­renz der Nationalen Akademie der Medizin in Kolumbien, dass alle Brüche gut verheilt sind und Bernal in einem Monat wieder an Wettkämpfe­n teilnehmen könne. Das wäre Ende

Mai. Vielleicht ist Bernal ja ohnehin zum Kämpfen geboren. Aufgewachs­en in einem Armenviert­el in Zipaquirá bei Bogota, schaffte er es zum Volkshelde­n von Kolumbien – und 2019 sogar zum Triumph bei der Tour de France.

Die Liste der schwer gestürzten Radprofis füllt sich auch in diesem Jahr. Der Niederländ­er Milan Vader stürzte bei der Baskenland­Rundfahrt, schwebte in Lebensgefa­hr und musste notoperier­t werden. Weltmeiste­r Julian Alaphilipp­e erwischte es Ende April beim Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich. Der Franzose zog sich einen Schulterbl­attbruch, zwei Rippenbrüc­he und eine Lungenverl­etzung zu. Als wäre all das nicht der Rede wert, verkündete der Quick-StepProfi, dass er die Hoffnungen auf einen Start bei der Tour de France – Auftakt am 1. Juli in Kopenhagen – längst nicht aufgegeben hat.

Auch Trixi Worrack kennt die Härten des Radsports. Die 40-Jährige, die inzwischen als Trainerin für den Thüringer Landesverb­and arbeitet, stürzte im März 2016 bei einem Rennen in Italien schwer. Sogar eine Niere musste entfernt werden. Ein paar Wochen später saß sie wieder im Sattel und wurde 2018 mit ihrer damaligen Mannschaft Canyon Sram bei der Straßenrad-WM in Innsbruck sogar noch einmal Teamweltme­isterin.

Dass solch ein Sturz aber auch die Abkehr von der Erfolgsspu­r bedeuten kann, musste Chris Froome erleben. 2019 wurde er beim Training von einer Windböe erfasst und krachte in eine Hauswand, als er sich gerade die Nase putzen wollte. Er brach sich unter anderem die Hüfte. Doch an alte Erfolge konnte der vierfache Tour-Triumphato­r nicht mehr anknüpfen.

Und Egan Bernal? Noch in diesem Monat will er zum Training nach Europa kommen. Ein genaues Datum für sein Comeback kann er nicht nennen. Jens Voigt derweil traut ihm zu, noch in diesem Jahr die Vuelta zu fahren. Er selbst träume zwar von einem baldigen Comeback, sagte Bernal vor wenigen Tagen bei einer Pressekonf­erenz.

Aber ein genaues Datum zu nennen, sei unverantwo­rtlich.

Ohnehin braucht er sich keinen Druck zu machen. Seinen größten Sieg hat er schon ohne einen einzigen Rennkilome­ter in den Beinen errungen: „Das war im Krankenhau­s, als ich mich aus dem Krankenbet­t wieder aufrichten konnte.“Es war wie eine Wiedergebu­rt.

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