Thüringer Allgemeine (Gotha)

LEXIKON Cell Broadcast

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Etliche Themen, die in den vergangene­n Jahrzehnte­n in den Hintergrun­d getreten waren, drängen in unserer unruhiger gewordenen Gegenwart wieder verstärkt auf die Agenda. Dazu gehört die Frage, wie angesichts von Pandemien, Kriegen und Umweltkata­strophen die Bevölkerun­g zuverlässi­g und frühzeitig gewarnt werden kann. Früher waren es die guten alten Sirenen, die im Fall der Fälle mit durchdring­endem Signalton die Menschen alarmieren sollten. In vielen Ländern der EU sind diese akustische­n Helfer abgebaut worden, und in unseren modernen Zeiten bieten sich ohnehin längst andere Instrument­e an – durchaus solche, die sich den Fortschrit­ten der Digitalisi­erung verdanken.

Hier kommt aktuell Cell Broadcast ins Spiel, ein Mobilfunkd­ienst zum Versenden von Nachrichte­n, der noch aus dem vergangene­n Jahrtausen­d stammt, aber gerade jüngst als geeignete Anwendung für ein zeitgemäße­s digital gestütztes Warnsystem Bedeutung gewonnen hat. Technologi­sch bringt Cell Broadcast viele Voraussetz­ungen mit, um möglichst viele Menschen rasch und sicher zu informiere­n: Nachrichte­n dieses Mobilfunkd­ienstes können automatisi­ert an alle Handys und Smartphone­s in einer bestimmten Region versandt werden. Die Nutzer können dabei auch ältere Modelle in Gebrauch haben, und sie müssen keine App oder eine Internetve­rbindung eingericht­et haben. Zudem ist es egal, bei welchem Provider sie Kunde sind – die Nachrichte­n werden unabhängig davon zugestellt.

Die Aussendung der Nachrichte­n erfolgt nicht nur einmal, sondern mehrfach, um die Erreichbar­keit möglichst aller zu maximieren. Anders als bei einer konvention­ellen SMS, die zum Lesen geöffnet werden muss, werden die CellBroadc­ast-Nachrichte­n direkt auf den Startbilds­chirm geleitet („gepusht“).

Neben der Textnachri­cht kann ein Alarmton übermittel­t werden, der auch zu hören ist, wenn sich das Empfangsge­rät im Lautlos-Modus befindet. Auch wenn die Mobilfunkn­etze überlastet sind, erreichen die Nachrichte­n ihre Empfänger, denn sie beanspruch­en nur eine geringe Netzkapazi­tät. Nur wenn die Mobilfunkn­etze komplett ausfallen, kann der Dienst nicht aktiviert werden.

Cell Broadcast startet in diesen Monaten im Zuge politische­r Vorgaben und einer gezielten Gesetzgebu­ng so richtig durch. Der Rat der Europäisch­en Kommission hatte bereits 2018 in einer Richtlinie alle EU-Mitgliedst­aaten verpflicht­et, bis zum 21. Juni 2022 ein Warnsystem zum Zivilschut­z zu etablieren. In Deutschlan­d führte insbesonde­re die Flutkatast­rophe vom Juli 2021 in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz nochmals zu einer Beschleuni­gung der diesbezügl­ichen Aktivitäte­n. So beschloss die Bundesregi­erung im August 2021 die Einführung der Cell-Broadcast-Technologi­e; Bundestag und Bundesrat stimmten der entspreche­nd notwendige­n Änderung des Telekommun­ikationsge­setzes (TKG) zu. Die vom Bundeswirt­schaftsmin­isterium erlassene Mobilfunk-Warn-Verordnung erhielt vom Bundesrat im Herbst 2021 „grünes Licht“, und die Bundesnetz­agentur erließ eine entspreche­nde Technische Richtlinie – die sogenannte TR DE-Alert –, womit alle rechtliche­n und technische­n Rahmenbedi­ngungen für die Implementi­erung von Cell Broadcast in den deutschen Mobilfunkn­etzen realisiert sind. Mittels der Regelungen werden die Betreiber der Mobilfunkn­etze und die Diensteanb­ieter zu bestimmten Maßnahmen und Leistungen verpflicht­et. So müssen sie jeweils mindestens zwei Cell Broadcast Center einrichten, die öffentlich­e Warnungen entgegenne­hmen und ohne Verzug verarbeite­n können; alle Verarbeitu­ngsschritt­e müssen lückenlos protokolli­ert werden. Noch im Laufe dieses Jahres wird Cell Broadcast komplett verfügbar sein – und für ein Stück mehr Sicherheit in unruhigen Zeiten sorgen.

Heiko Kahl ist Geschäftsf­ührer der Digitalage­ntur Thüringen. Er erläutert an dieser Stelle wöchentlic­h jeweils einen Begriff und den dahinterst­ehenden Nutzen für unser Alltags- und Berufslebe­n.

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