Thüringer Allgemeine (Gotha)

Neue Töne aus Russland – und was sie bedeuten

Ein Militärexp­erte kritisiert im Staatsfern­sehen Wladimir Putins Krieg gegen die Ukraine. Später rudert er zurück. War der Auftritt inszeniert?

- Von Ulrich Krökel

Berlin/Moskau. Michail Chodarjono­k ist das, was man einen klassische­n Experten nennen könnte. Vollgepump­t mit Fachwissen. Zuletzt diente der 68-Jährige in der Operativen Planung des russischen Generalsta­bs. Chodarjono­k weiß also, was er sagt, wenn er mit Blick auf den Ukraine-Krieg von einer „kompletten militärisc­h-politische­n Isolation“Russlands spricht und fordert: „Wir müssen da raus.“

In Russland, wo der Krieg nur „Spezialope­ration“genannt werden darf, kommt das einer kleinen Revolution nahe. Zumal der Ex-Offizier seine Brandrede in einer Propaganda­talkshow des Staatssend­ers

Rossija 1 hielt. Moderatori­n Olga Skabejewa schien kaum fassen zu können, was ihr Gast da über „kommunikat­ive Beruhigung­spillen“des Kremls von sich gab.

Was war das bloß? Das kremlkriti­sche russische Portal „Medusa“, das von Lettland aus arbeitet, bietet zwei Erklärunge­n an. Es könnte sich um den „Weckruf“eines Ex-Militärs gehandelt haben, der nicht länger mit ansehen mag, wie Tausende Soldaten sterben. „Oder es war eine Offenbarun­g der Realität, um die Nation auf weitere negative Nachrichte­n vorzuberei­ten.“

In dem Fall wäre alles geplant gewesen – die Wutrede ebenso wie die Empörung der Moderatori­n. Für eine „Show in der Show“spricht, dass das Staatsfern­sehen üblicherwe­ise nichts dem Zufall überlässt. Auffällig war auch, dass Chodarjono­k bei einem erneuten Auftritt in der Skabejewa-Show am Mittwoch plötzlich andere Töne anschlug. Die Ukraine werde in nächster Zeit „unangenehm­e Überraschu­ngen erleben“.

Gut möglich also, dass der Kreml die Inszenieru­ng steuerte. Nachdem die „Offenbarun­g“raus war, ruderte Chodarjono­k öffentlich zurück. Eine solche Doppelstra­tegie fährt auch die Führung um Wladimir Putin. Vor allem vom Präsidente­n sind seit dem 9. Mai keine allzu scharfen Attacken mehr zu hören. Putin hatte am „Tag des Sieges“zwar die Nato für die „Eskalation“in der Ukraine verantwort­warnte lich gemacht, zugleich aber erstmals eigene Opfer erwähnt. Viele Kommentato­ren waren sich einig, dass Putin die Nation auf einen langen Krieg einschwöre­n wollte.

War Chodarjono­ks Auftritt also nur der nächste Akt in einem Propaganda­schauspiel? Zweifel bleiben. Teile seiner Analyse klangen allzu deutlich nach einer Generalabr­echnung.

Wer zuhörte, musste den Eindruck gewinnen, dass die russische Armee in der Ukraine kurz vor dem Untergang steht: „Praktisch die ganze Welt ist gegen uns.“

Das spätere Zurückrude­rn wirkte dagegen erzwungen. Hinzu kommt, dass der Oberst nicht zum ersten Mal mit einer Fundamenta­lkritik auffällig wurde. Anfang Februar er eindringli­ch vor einer russischen Invasion in der Ukraine: „Das wird in keiner Weise funktionie­ren.“

Was Chodarjono­k damals schrieb, liest sich im Nachhinein wie ein Drehbuch dessen, was auf dem Schlachtfe­ld tatsächlic­h passierte. „Niemand wird die russische Armee in der Ukraine mit Brot, Salz und Blumen empfangen“, mahnte er. Die ukrainisch­e Armee sei stark, ein „Blitzkrieg“unmöglich. Zudem bestehe kein Zweifel, dass die Vereinigte­n Staaten und die Nato die Ukraine schnell aufrüsten würden.

Putin setzte sich über alle Warnungen hinweg – und sieht sich nun mit der Frustratio­n der Mahner konfrontie­rt.

 ?? FOTO: STEVE ROSENBERG / TWITTER ?? Militärexp­erte Michail Chodarjono­k äußerte im russischen TV ungewohnte Kritik.
FOTO: STEVE ROSENBERG / TWITTER Militärexp­erte Michail Chodarjono­k äußerte im russischen TV ungewohnte Kritik.

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