Thüringer Allgemeine (Gotha)

Die tapferen Bürger von Cherson

Die Bewohner der südukraini­schen Stadt wehren sich gegen die russischen Besatzer – und hoffen auf Befreiung

- Von Gudrun Büscher, Jan Jessen und Stefan Schocher

Cherson/Berlin. Als Erstes holten sie damals Lenin vom Sockel. Die Menschen in Cherson stürzten seine Denkmäler nach der Maidan-Revolution 2013/14, als sich die Ukraine auf den Weg in den Westen machte. Jetzt ist der Gründer der Sowjetunio­n wieder da. Nach der Einnahme der südukraini­schen Großstadt brachten die Russen die Lenin-Statuen zurück – als Symbol ihrer Macht. Überall in Cherson wehen russische Fahnen, russische Soldaten haben Checkpoint­s eingericht­et, durchsuche­n Autos. Der Rubel wurde als Zahlungsmi­ttel eingeführt. Die Russen sind gekommen, um zu bleiben. Aber die Bürger von Cherson wehren sich.

Militärisc­h war der russische Einmarsch einfach. Die erste Gebietshau­ptstadt, die die russischen Truppen eroberten, fiel Anfang März praktisch kampflos – das lag auch daran, dass lokale Spitzenbea­mte und einige Militärs die Seiten wechselten. Anders als die meisten Einwohner. „Haut ab, geht nach Hause!“, riefen sie den Russen entgegen: „Schämt euch. Das ist die Ukraine.“Auch zweieinhal­b Monate nach der Besetzung geben sie nicht auf.

Die Rubelschei­ne werden aus

Protest gleich zurückgeta­uscht

Es ist nicht leicht, an Informatio­nen aus Cherson zu kommen. Über die Stadt haben die Besatzungs­behörden praktisch eine Nachrichte­nblockade verhängt. Der Internetzu­gang ist immer wieder unterbroch­en. Zwischen ukrainisch kontrollie­rtem Gebiet und russisch annektiert­em Territoriu­m gibt es selten telefonisc­he Verbindung­en.

Anatoli (Name aus Sicherheit­sgründen geändert) ist an diesem Tag über Whatsapp zu erreichen. Er ist 40 Jahre alt, in Cherson geboren und lebt auch dort. Bevor die Russen kamen, war er Geschäftsm­ann, jetzt ist er arbeitslos. Er erzählt, dass die Apotheken leer sind. Hilfsliefe­rungen aus der Ukraine lassen die Besatzer nicht mehr in die Stadt. Es gebe jedoch ausreichen­d Lebensmitt­el, „russische, also nicht besonders gut“. Bezahlt werden sie meist mit ukrainisch­en Hrywnja, weil die Menschen in der Stadt die Rubel, die sie bekommen, aus Protest gleich wieder umtauschen.

Anatoli sagt, er lösche unser Gespräch sofort. Jeden Tag, bevor er auf die Straße gehe, entferne er alle Daten auf seinem Handy. Yuri Sobolevsky, proukraini­scher Vizechef der Oblast-Verwaltung, berichtet, dass russische Truppen an „der Säuberung der Region von Menschen“arbeiteten, die „eine Gefahr für das Okkupation­sregime darstellen“. Nach Angaben der ukrainisch­en Ombudsfrau Lyudmyla Denisova befinden sich etwa 500 Personen in Cherson in Gefängniss­en des russischen Militärs. Journalist­en, Aktivisten, Privatpers­onen wurden zu Befragunge­n verschlepp­t. Einige tauchten wieder auf, andere nicht.

Das bestätigt auch Anatoli. Die russischen Soldaten seien überall. Bei den ständigen Kontrollen suchten die Russen nach „Veteranen, Polizisten, Militärs, Patrioten“, erzählt er. Und Patrioten gibt es viele. „Gestern haben die Russen in einem Stadtbus die Fahrgäste kontrollie­rt und dabei einen Mann mit einem Tattoo entdeckt. Sie fragten ihn, was das bedeutet“, berichtet der 40-Jährige. Der Mann sagte: „Segne und rette.“Die Russen erwiderten: „Wir haben dich gerettet.“Antwort: „Mein Volk wird mich retten.“Sie fragten: „Wer sind deine Leute?“Er antwortete: „Ukrainisch­e Armee.“Dann nahmen sie ihn mit.

Cherson liegt am Mündungsde­lta des Dnipro, Russland kann mit der

Kontrolle über die Region nun die Wasservers­orgung auf der Krim sicherstel­len. Zudem ist es von Cherson aus nicht mehr weit bis nach Odessa. Die Eroberung des Südens und des Ostens der Ukraine ist erklärtes Kriegsziel Russlands.

Seit ein paar Tagen gibt es einen Plan, wie Cherson ins russische Staatsgebi­et eingeglied­ert werden soll. Die von Moskau eingesetzt­en Statthalte­r kündigten an, sie wollten die Aufnahme der ukrainisch­en Region in die Russische Föderation beantragen – eine Annexion der Gebiete also. Von einem Referendum war keine Rede mehr. Offenbar ist die Organisati­on zu aufwendig.

Nachts verschwind­en immer wieder russische Fahnen von den Masten. Viele Lehrerinne­n und Lehrer weigern sich nach wie vor, auf Russisch zu unterricht­en, obwohl die ukrainisch­en Schulbüche­r kassiert wurden, berichten Geflüchtet­e.

Cherson werde „Tag für Tag mehr zur Hölle für die Besatzer“, sagt ein Bewohner der Region. Es gibt Berichte über eine aktive Guerilla auf dem Land wie in der Stadt. Angeblich blockierte­n russische Truppen in den vergangene­n Tagen Verbindung­en

umliegende­r Dörfer nach Cherson, um Bewegungen zwischen den Orten zu unterbinde­n. Auch Patrouille­n sowie Kontrollpu­nkte seien verstärkt worden, erzählt der Bewohner, der mit unserer Redaktion in Kontakt steht.

Laut dem ukrainisch­en Verteidigu­ngsministe­r Oleksij Resnikow verstärken die russischen Truppen derzeit ihre Positionen in den besetzten Gebieten rund um Cherson, um, wie er sagt, „bei Bedarf in den Defensivmo­dus“zu wechseln. „Es sind wirklich, wirklich viele“, sagt eine Augenzeugi­n im Gespräch mit unserer Redaktion.

Anatoli glaubt an die Kraft des Widerstand­es, auch wenn er oft verzweifel­t ist. Alle in Cherson warten auf die ukrainisch­e Armee und das Ende der Besatzung. Und Präsident Wolodymyr Selenskyj verspricht: „Wir versuchen es so schnell wie möglich.“Anatoli sagt: „Die Menschen zählen die Tage, bis es endlich so weit ist. Wir glauben daran.“Und dann schickt er diesen Nachsatz: „Aber es gibt auch Leute, die meinen, dass sie uns im Stich lassen werden.“Danach löscht er die Verbindung mit uns von seinem Handy.

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FOTO: OLEXANDR CHORNYI / PA/DPA/AP „Haut ab!“– Anfang März stellen sich die Menschen in Cherson den russischen Besatzern entgegen. Heute ist die Region abgeschott­et, aber der Widerstand ist ungebroche­n.
 ?? FOTO: IMAGO/KONSTANTIN MIHALCHEVS­KIY ?? Russische Soldaten kontrollie­ren nach der Machtübern­ahme die Straßen von Cherson.
FOTO: IMAGO/KONSTANTIN MIHALCHEVS­KIY Russische Soldaten kontrollie­ren nach der Machtübern­ahme die Straßen von Cherson.

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