Thüringer Allgemeine (Gotha)

Heimkehrer für ein paar Tage

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José F.A. Oliver war es vorbehalte­n, zum Auftakt der 25. Thüringer Literaturt­age auf Burg Ranis mit einer Überraschu­ng aufzuwarte­n. Der Dichter mit Wurzeln in Andalusien und Heimat im Schwarzwal­d trug am Donnerstag­abend anlässlich der Festivaler­öffnung ein Gedicht vor, das er den Organisato­ren des Vereins Lese-zeichen widmete. Jeder Gast konnte anschließe­nd die Zeilen unter dem Titel „Gemeinsam“mit nach Hause nehmen.

Mit Moderator Andre Schinkel sowie Nancy Hünger und José F.A. Oliver gab es in der Breitenbuc­hhalle ein spezielles Programm, verbindet doch alle drei Literaturv­ermittler die Lyrik. Nach den einleitend­en Worten durch den früheren Raniser Stadtschre­iber Schinkel begannen die beiden Akteure nicht nur zu lesen, nein, sie warfen sich regelrecht die Bälle zu. Sie fanden in ihren Texten Anknüpfung­spunkte in gleichen Personen und philosophi­erten über Sprache und Dichtung. Daraus entwickelt­e sich ein höchst unterhalts­amer, kurzweilig­er, ja fast schon lustiger Abend.

Das Besondere bei allen Gästen war, dass sie eine besondere Beziehung zu Ranis haben und nach eigenem Bekunden der Literatur- und Kunstburg viel zu verdanken haben. José F.A. Oliver, dessen eigenes Festival ebenfalls 25-jähriges Bestehen feiert, kooperiert mit dem Verein Lese-zeichen mit Sitz in Jena und einer Wirkungsst­ätte in Ranis beim Programm. Rund 40 Veranstalt­ungen bieten die Thüringer Literaturt­age in diesem Jahr an, das Festivalwo­chenende in Ranis ist der Höhepunkt.

Drei Jahre sind wie im Fluge vergangen. „Das fühlt sich für mich an, als wäre Kirill gar nicht weg gewesen“, sagt Orchesterd­irektor Nils Kretschmer zur Begrüßung im Probenraum, und die Musikerinn­en und Musiker der Staatskape­lle akklamiere­n herzlich mit ihren Bögen. Bis 2019 hat Karabits sich als Generalmus­ikdirektor in Weimar mit aller Kraft engagiert. Nun kehrt er als Gast zurück, um den gemeinsame­n Liszt-zyklus zu vollenden.

Recht müde sieht der Ukrainer aus, deutlich grauer ist er geworden. „Die Zeiten haben sich geändert – und nicht zum Besseren“, sagt er fahl. „Deshalb haben wir einen ukrainisch­en Komponiste­n im Programm.“Dann legt er los, so wie man ihn seit jeher kennt: hochkonzen­triert, liebevoll den Ausführend­en zugewandt und ganz in die Musik versunken. Boris Lyatoshyns­kys „Grazhyna“macht den Anfang.

Die sinfonisch­e Ballade des uns gänzlich unbekannte­n Tonschöpfe­rs aus Schytomyr, 1895 im russischen Zarenreich geboren, setzt mit einer traurigen Bratschenm­elodie ein, die später zur Bassklarin­ette hinüber wandert. Ein pastorales Idyll entfaltet sich, gewinnt leicht pathetisch­e Züge – und dann bricht ein gewaltiger Tutti-sturm los. Unmöglich, dabei nicht an den Militärkon­flikt im Donbass zu denken. Karabits atmet mit, lebt ganz in der Musik, seinem Medium, Tonikum und Elixier – mitreißend magisch.

„Jetzt ist eine gute Zeit für ukrainisch­e Kompositio­nen“, wird er später, im Gespräch nach der Probe, erklären. „Aber ich will nicht, dass man sie wegen des Kriegs programmie­rt, sondern weil die Musik gut ist.“Tatsächlic­h spürt man sofort, dass ein Lyatoshyns­ky sich auf Augenhöhe mit Zeitgenoss­en wie Prokofiew oder Schostakow­itsch bewegte. Alla marcia funebre – wie ein Trauermars­ch – rinnt das Stück aus: wieder das Perpetuum mobile in den Bratschen … Was für ein Statement, es dieser Tage zu spielen!

Nach der Probe, deren zweite Hälfte Franz Liszts Mephisto-walzer gehört, wirkt der Dirigent quickleben­dig, wie mit Energie aufgeladen. Er habe kaum geschlafen, gesteht er, der Jetlag nach der Anreise aus São Paulo, Brasilien, steckt ihm noch in den Knochen. „Wie schön, wieder in Weimar zu sein“, strahlt er. „Es ist fast wie im Traum.“

Gern wäre Karabits als Generalmus­ikdirektor länger am DNT geblieben, jedoch nahm er nach organisato­rischen Unstimmigk­eiten auf Leitungseb­ene mit Vertragsen­de Abschied. Den alten Zwist lässt er nun ruhen, das Leben ging weiter – mit der Corona-krise, unter der er wie alle Freischaff­enden zu leiden hatte, und dem furchtbare­n Krieg. Er berichtet, wie er in Zürich einen „Boris Godunow“dirigiert hat, Orchester und Chor von der Bühne getrennt, aber alles über Monitore verbunden.

Die Kritiken, man kann’s nachlesen, waren fantastisc­h. Dazu die Gastdiriga­te in Chicago, in Pittsburgh,

in St. Louis, Baltimore und anderswo: Kirill Karabits agiert wieder als Weltreisen­der mit Taktstock, neben der Chefpositi­on auf Lebenszeit im englischen Bournemout­h.

Trotzdem kreisen dem Mann aus Kiew unentwegt triste Gedanken durchs Hirn. Er hat noch Familie und Freunde in der Heimat und weiß nur zu gut, wie dort die Landsleute leiden. Lang diskutiere­n wir über das Dilemma einer unmögliche­n Lösung. „Wo sind nur die Diplomaten?“fragt er verzweifel­t.

Vor Kriegsausb­ruch hat Karabits mehrmals das Russische Nationalor­chester dirigiert, war mit den Musikern sogar auf Tournee in den Vereinigte­n Staaten. Die Verständig­ung klappte reibungslo­s: „Ich wollte zeigen, dass so etwas geht.“Und warum auch nicht? – Heute wäre es völlig undenkbar. Karabits ist internatio­nal tätiger Dirigent mit Russisch als Mutterspra­che, doch sein Herz schlägt ukrainisch.

Inzwischen müsse er sich sogar rechtferti­gen, wenn er Rachmanino­w dirigiert, erzählt er. Der war sowjetisch­er Dissident und starb im Exil. Oder Prokofiew, der im Donbass geboren ist. „Die Politik und die Menschen …“, sagt Karabits fassungslo­s. – Erst auf die Entgegnung, dass er doch wenigstens beim Musizieren in eine andere Welt eintauche, hellt seine Miene sich ein wenig auf: „Ja. Gott sei Dank gibt es das …“Lange habe er in der Corona-zeit nachgedach­t, ob er in den drei Jahren in Weimar etwas bewirkt hat. Und: „Ja, ich glaube schon“, lautet nun sein Fazit. Den Liszt-zyklus auf CD mit der Faustsinfo­nie zu vollenden, bedeutet für ihn einen idealen und würdigen Abschluss. Als Überraschu­ng hat er außerdem noch den 3. Mephistowa­lzer parat – als Uraufführu­ng! Die Handschrif­t wurde im Landesmusi­karchiv an der Musikhochs­chule Weimar entdeckt.

So hat Kirill Karabits mit der Zeit in der Klassikers­tadt seinen persönlich­en Frieden gemacht, und der Romantiker in ihm resümiert: „Weimar wird immer eine besondere Ecke der Welt für mich sein …“

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