Thüringer Allgemeine (Gotha)

Ist Pistorius stärker als der Kanzler?

Der Verteidigu­ngsministe­r kämpft um seine Projekte. Dafür muss er sich auch gegen Olaf Scholz durchsetze­n

- Jan Dörner

Mit der rechten Hand vor den Augen schirmt Boris Pistorius die grelle Sonne ab. Vor ihm donnern zwei Eurofighte­r der Bundeswehr von der Startbahn des lettischen Luftwaffen­stützpunkt­s Lielvarde in den blauen Himmel. Die Kampfjets starten nahezu senkrecht. „Weil wir es können“, sagt einer der Bundeswehr­vertreter. Pistorius lacht. Mitgereist­e Bundestags­abgeordnet­e haben vorher Selfies vor den Maschinen gemacht.

Fünf deutsche Eurofighte­r sind hier stationier­t, die Nato kontrollie­rt den Luftraum über Lettland, Litauen und Estland und der Ostsee. In etwa zehn Minuten können sie jeden Punkt des Baltikums erreichen. Die Jets der Bundeswehr steigen auf, wenn russische Flugzeuge den Luftraum verletzen. Das kommt derzeit alle paar Tage vor. Den letzten Alarmstart, „Alpha Scramble“im Fachjargon, mussten die deutschen Piloten am Tag vor dem Ministerbe­such absolviere­n.

„Wir senden ein klares und starkes Signal an Russland: Zusammen sind wir stark“, bekräftigt Pistorius Deutschlan­ds Unterstütz­ung für die baltischen Staaten. Pistorius ist für zwei Tage in den früheren Sowjetrepu­bliken Lettland und Litauen zu Besuch. Für den Verteidigu­ngsministe­r entscheide­t sich hier, ob Deutschlan­d die Bedrohung durch Russland ernst nimmt – und angemessen darauf reagiert. Pistorius arbeitet daran, eine Kampfbriga­de dauerhaft in Litauen zu stationier­en, er spricht von einem „Leuchtturm­projekt der Zeitenwend­e“. Viele Fragen von Finanzieru­ng bis zur Ausstattun­g der Brigade muss Pistorius allerdings noch lösen.

Wirkt Scholz oft arrogant, gibt Pistorius sich nahbar

Kaum ein deutscher Politiker steht mit seinen Vorhaben derzeit so sehr im Fokus wie Pistorius. Der Verteidigu­ngsministe­r führt die Rangliste der beliebtest­en Politiker weiterhin an, liegt weit vor Bundeskanz­ler Olaf Scholz. An Pfingsten machte ein sächsische­r SPD-Politiker bundesweit medial Karriere, weil er lieber mit Pistorius als mit Scholz in den Bundestags­wahlkampf ziehen würde. Die SPD-Spitze will von der Debatte nichts wissen.

Pistorius als besserer Kanzlerkan­didat, der Gedanke gefällt jedoch vielen. Vom „Reservekan­zler“ist die Rede. Wirkt Scholz oft arrogant, gibt Pistorius sich nahbar. Ungezwunge­n begrüßt er die deutschen

Soldaten in Lettland per Handschlag, bringt sie zum Lachen. Wenn er bei denen gut ankommt, könnte er doch auch die SPD-Werte bei den Wählern verbessern, finden seine Fans. Doch ist Pistorius so stark und souverän, wie manche meinen? Oder gleicht er eher dem Scheinries­en Herrn Tur Tur aus Michael Endes Kinderbuch­klassiker „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivf­ührer“, der von Ferne groß wirkt, aber immer kleiner wird, je näher man ihm kommt? Einerseits soll der Verteidigu­ngsministe­r die Zeitenwend­e in der Praxis umsetzen, anderersei­ts stößt er dabei an Grenzen. An Grenzen des Bundeshaus­halts. An politische Grenzen. An seine Grenzen?

Pistorius fordert für das kommende Jahr 6,7 Milliarden Euro zusätzlich für den Verteidigu­ngsetat. Die 100 Milliarden aus dem Sonderverm­ögen zur Modernisie­rung seiner Truppe sind weitgehend ausgegeben oder verplant. Er brauche weiteres Geld zur Beschaffun­g, ansonsten laufe alles auf einen Rüstungsst­opp hinaus, warnt der Verteidigu­ngsministe­r.

Pistorius und seine Berater wollen die Bundeswehr „kriegstüch­tig“machen. Sie befürchten, dass Russlands Machthaber Wladimir Putin in fünf bis acht Jahren so weit aufgerüste­t haben könnte, dass er die Nato angreift. Mit seinen Warnungen und seiner robusten Wortwahl schreckt Pistorius so manchen ab. Auch vielen Sozialdemo­kraten ist der politisch und rhetorisch vorsichtig­e Scholz lieber. Unterstütz­er der Pistorius-Linie waren in der Partei

zuletzt zunehmend isoliert. Hinzu kommt: Die Bundesregi­erung muss sparen und Finanzmini­ster Christian Lindner (FDP) sperrt sich vehement gegen die Forderunge­n einzelner Minister wie Pistorius nach mehr Geld – und hat in der Debatte die Rückendeck­ung des Kanzlers. Ähnlich verhält es sich mit einem weiteren Kernprojek­t von Pistorius: die Wiedereinf­ührung einer Wehrpflich­t. Auch hier fehlt ihm der politische Rückhalt.

Nach anfänglich­em Wohlwollen stellt die opposition­elle Union im regierungs­internen Haushaltss­treit längst die Durchsetzu­ngsfähigke­it von Pistorius infrage, sie nennen ihn „Ankündigun­gsminister“. Von der Situation mindestens genervt, entfuhr Pistorius kürzlich in einer internen Runde: „Ich muss das hier nicht machen.“Hat Pistorius mit Rücktritt gedroht? Nein, nein, stellte der Minister öffentlich klar: „Ich habe immer noch großen Bock auf diesen Job, und so schnell werden Sie mich nicht los.“

Pistorius warnt, die Sicherheit Deutschlan­ds sei so stark bedroht wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht. Die nötigen Schlüsse zu ziehen, das sieht er als seine Aufgabe. Wenn die Bundeswehr einsatzber­eit sein soll, braucht sie Geld. Will die Bundesregi­erung die Ukraine im Kampf gegen Russland unterstütz­en, kostet das ebenfalls. Pistorius nennt die Summen, das Geld aufzutreib­en sieht er als die Aufgabe anderer. Die Haushaltsp­olitik haben Scholz, Lindner und Vizekanzle­r Robert Habeck (Grüne) zur Chefsache gemacht.

Zurück nach Lettland. Die beiden Eurofighte­r landen gerade wieder. Aus Russlands Angriff auf die Ukraine gebe es zwei Lehren, sagt Pistorius. Die Nato müsse zu ihrer Verteidigu­ng ihre Abschrecku­ng gegenüber Russland verstärken und gleichzeit­ig die Ukraine unterstütz­en. „Das ist unsere einzige Aufgabe.“In dem Moment spricht kein heimlicher Kanzlerkan­didat. Aber ein sehr selbstbewu­sster und kämpferisc­her Verteidigu­ngsministe­r.

Wir senden ein klares und starkes Signal an Russland: Zusammen sind wir stark. Boris Pistorius (SPD), Bundesvert­eidigungsm­inister

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MAURIZIO GAMBARINI / FFS (2) Mit Siegeszeic­hen: Bundesvert­eidigungsm­inister Boris Pistorius (SPD) gestern in Litauen.
 ?? ?? Der Luftwaffen­stützpunkt Lielvarde in Lettland. Fünf deutsche Eurofighte­r sind dort stationier­t.
Der Luftwaffen­stützpunkt Lielvarde in Lettland. Fünf deutsche Eurofighte­r sind dort stationier­t.

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