Thüringer Allgemeine (Ilmenau)
Die Kraft der klaren Worte
Der Roman „Niemanns Kinder“stellt die Leser vor Herausforderungen – und macht es ihnen leicht, sich darauf einzulassen
Das ist die Geschichte zweier Schwestern, die mit ansehen mussten, wie ihre Mutter ermordet wird. Es ist auch die Geschichte eines Mannes, dessen Mutter eine Mörderin ist, und die zweier Jungs und ihrer heimlichen Beziehung. Es ist die Geschichte von Liebe, die erst noch richtig beginnen muss, und von Angst, die nie vergehen wird.
Es stecken so viele Geschichten in René Müller-ferchlands gerade erschienenem Roman „Niemanns Kinder“. Der Erfurter Schriftsteller erzählt sie als eine, als die Geschichhin te von Marta, die ihren Vater sucht und die Antwort auf die Frage, warum er die Familie verlassen hat.
Marta ist 16 und im selben Jahr geboren wie ihr Bruder Mateo. Die beiden sind die Kinder von Daniel, den sie selbst nie bewusst wahrgenommen haben, und Jasmina, die selbst nie über den Vater redet, wie sie überhaupt nie über die Vergangenheit redet. Zur Familie gehört noch Jasenka, die Schwester von
Jasmina. Sie kamen als Kriegswaisen aus Bosnien nach Deutschland, für immer verwundet an der Seele und für immer in Angst lebend -- eine Angst, die die Kinder Marta und Mateo mitleben müssen und von der sie sich anscheinend nie werden lösen können.
Doch Marta will sich lösen, sie will die Wahrheit herausfinden über das, was war, und über den Vater. Sie reist mehrmals zwischen Berlin und Frankfurt/oder
und her, zwischen Gegenwart und Vergangenheit, und sie begibt sich in Gefahr.
Der Autor zeichnet das Bild einer heillosen, teils unwirklichen Welt und weckt zugleich das Gefühl, man sei gerade selbst mittendrin im Leben der Figuren, in ihren Gedanken und Gesprächen. Bei diesen verzichtet er auf die Kennzeichnung der wörtlichen Rede. Das erfordert anfangs Konzentration. Doch dann geht es schnell, denn der Roman spricht eine klare, verständliche Sprache. Sie hilft dabei, dass diese Bilder im Kopf entstehen können, aus denen ein Film wird.
Wie Filmszenen sind die einzelnen Teile aneinandergereiht. Sie tragen keine Überschriften oder Zahlen, sondern Striche, die sich zu einem immer breiter werdenden Balken addieren – wie die Balken unter den Filmen auf Youtube, ein Wort übrigens, das im Buch ebenso wenig vorkommt wie viele andere, die die Generationen heute sprachlich voneinander trennen. Dieser Roman trennt nicht, er verbindet.