Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Merkels neue Härte gegen Erdogan
Nach Festnahme des Menschenrechtlers Peter Steudtner übt die Bundesregierung Druck aus. Kommt eine Reisewarnung?
Berlin/brüssel. Die Öffentlichkeit erfuhr es erst am Dienstag. In Wahrheit war Peter Steudtner bereits am 5. Juli in der Türkei festgenommen worden. Zwei Tage später ist die Bundesregierung alarmiert. Ihre Menschenrechtsbeauftragte Bärbel Kofler erklärt auf der Internetseite des Auswärtigen Amts, die Nachricht von der Festnahme von Menschenrechtsverteidigern „erfüllt mich mit großer Sorge“. Dass Steudtner darunter ist, erwähnt sie nicht. Dass weitere zwei Wochen vergehen, bis Kanzlerin Angela Merkel (CDU) öffentlich auf den Plan tritt, Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) seinen Urlaub unterbricht und der türkische Botschafter ins Auswärtige Amt einbestellt wird, hat einen Grund: Es ist das Eingeständnis, dass man in der Zwischenzeit mit stiller Diplomatie nicht weitergekommen ist. Jetzt probiert es Merkel mit Härte.
Einschließlich Steudtner sitzen neun Deutsche in türkischen Gefängnissen, inhaftiert nach dem gescheiterten Putsch vor einem Jahr. Steudtner, der „Welt“-korrespondent Deniz Yücel und die Journalistin und Übersetzerin Mesale Tolu Corlu werden wie Terrorverdächtige behandelt. Vorwürfe, die „an den Haaren herbeigezogen“seien, kritisiert der Sprecher des Auswärtigen Amts, Martin Schäfer. Genau das wird am Mittwoch dem türkischen Botschafter mitgeteilt. Die Verhaftung sei „weder nachvollziehbar, noch akzeptabel“. Der Diplomat wisse nun, „dass es uns ernst ist“. Schon am Vorabend hatte die Kanzlerin angekündigt, „auf allen Ebenen“alles zu tun, um Steudtner freizubekommen: politisch, wirtschaftlich, juristisch, direkt, aber auch mittelbar – via Brüssel. Schließlich ist die Türkei Eu-beitrittskandidat, Nato-verbündeter, Handelspartner in einer Zollunion, Helfer bei der Eindämmung der Flüchtlingsflut.
Die neuerliche Festnahme wird als Retourkutsche von Präsident Recep Tayyip Erdogan verstanden, weil man türkischen Politikern Auftritte in Deutschland untersagt hatte. Die Kanzlerin würde womöglich weiter stillhalten – wenn sich dies auszahlen würde. Aber bisher hat Erdogan ihr jedes Entgegenkommen als Schwäche ausgelegt. Hinzu kommt, dass Spd-herausforderer Martin Schulz sie unter Druck setzt. Zum Verhalten der Türkei könne „auch die Regierungschefin unseres Landes“nicht mehr schweigen.
Berlin hat einige Optionen. Schon heute könnte Gabriel die Eu-zollunion mit der Türkei infrage stellen. Zudem kann das Auswärtige Amt eine Reisewarnung aussprechen.
Das würde die Tourismusindustrie belasten, ein wichtiger Devisenbringer.
Deniz Yücel, Türkei-korrespondent der „Welt“.
Foto: imago Die Wirtschaft ist Erdogans Achillesferse. In seiner Zeit als Premier zwischen 2003 und 2014 erlebte die Türkei den längsten Aufschwung ihrer jüngeren Geschichte. Doch im dritten Quartal 2016 schrumpfte das türkische Bruttoinlandsprodukt erstmals seit sieben Jahren. Sorgenkind: der Tourismus. Im ersten Halbjahr wollten nur 645 000 Deutsche in die Türkei fliegen, ein Minus von 24 Prozent zum Vorjahreszeitraum. 2016 schrumpften die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr von 27 auf 19 Milliarden Dollar.
Seit 1996 gibt es eine Zollunion mit der Türkei. Sie sichert den freien Austausch von Industriegütern. Brüssel wollte mit Ankara über die Ausdehnung auf Agrarprodukte und Dienstleistungen verhandeln. Von einem Verzicht auf diese Pläne raten Eupolitiker wie Alexander Graf Lambsdorff (FDP) ab. Ein erweiterter Freihandel liege im Eu-interesse und stärke in der Türkei die Kräfte, die nicht zum Präsidenten stünden.
Auch die diplomatischen Mittel sind nicht ausgereizt. Die Regierung kann ihren Botschafter aus Ankara abziehen, türkische Diplomaten in Berlin zu „unerwünschten Personen“erklären oder die Ausweisung von mutmaßlichen Mitarbeitern der türkischen Geheimdienste betreiben. Juristischen Druck übt auch ein Verfahren im Fall Yücel vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aus. Der Türkei bleibt eine Frist bis zum 24. Oktober, um darzulegen, was sie genau Yücel vorwirft.
Viele Druckmittel haben auch Nachteile. Beispiel Nato: Die Türkei hat die zweitgrößte Armee des Bündnisses und besetzt an der Nahtstelle von Europa und Asien eine Schlüsselposition. Sicherheitspolitisch kann die Allianz es sich nicht leisten, Erdogan in die Arme des russischen Präsidenten Putin zu treiben. Sanktionen gegen ein Mitglied sieht der Nato-vertrag auch nicht vor.
Die Verhandlungen über einen Beitritt zur Europäischen Union sind praktisch längst eingestellt. Eine formelle Aussetzung wäre nur ein Signal. Auch finanziell ist nicht viel zu machen. Die Türkei kann im Rahmen des Eu-finanzplans 2014–20 zwar fast 4,5 Milliarden Euro „Vorbeitrittshilfe“in Anspruch nehmen. Doch die EU hat die Zuwendungen mangels überzeugender Projekte bereits kräftig geschrumpft.
Auch der Migrationsdeal vom März 2016 taugt nicht als Druckmittel. Die EU unterstützt Aufnahme und Versorgung der 2,8 Millionen Flüchtlinge in der Türkei mit drei Milliarden Euro plus der Aussicht auf eine zweite Tranche in dieser Höhe. Die EU straft sich selbst, wenn sie diese Mittel einfrieren würde.
Herausforderer Schulz setzt Merkel unter Druck