Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

„Ich sehe Gefahren für unsere Demokratie“

Nach Chemnitz und Köthen beklagt Bundesfami­lienminist­erin Franziska Giffey (SPD) eine gefährlich­e Polarisier­ung des Landes

- Von Tim Braune, Julia Emmrich und Jörg Quoos

Berlin. Es muss einiges passieren, bis Franziska Giffey (SPD) ihre zuversicht­liche Stimmung verliert. Doch die Ereignisse von Chemnitz und Köthen, die Provokatio­nen und Entgleisun­gen im Bundestag, der Koalitions­krach um die Zukunft von Verfassung­sschutzprä­sident Hansgeorg Maaßen – das alles hat Spuren hinterlass­en: Beim Gespräch in ihrem Büro klingt die oft so zupackend gut gelaunte Bundesfami­lienminist­erin besorgt.

Frau Ministerin, Sie waren als erstes Kabinettsm­itglied nach den Vorfällen in Chemnitz vor Ort, auch am Tatort der Messeratta­cke. Was macht Ihnen größere Sorgen: Flüchtling­e, die schwere Straftaten begehen, oder die Aufmärsche der Rechten?

Franziska Giffey: Mir macht beides Sorgen. Ein Mensch ist in Chemnitz gestorben, das ist ein schrecklic­her Vorfall. Es ist ganz klar, dass Menschen darauf hoch emotional reagieren. Auch deshalb, weil es leider kein Einzelfall ist. Doch auch das, was in Chemnitz folgte, bereitet mir große Sorge. Überrasche­nd ist ja nicht, dass es rechtsradi­kale Gruppierun­gen gibt, überrasche­nd war die Massivität, mit der sie öffentlich aufgetrete­n sind. In kürzester Zeit wurde aus ganz Deutschlan­d mobilisier­t. Das ist ein Problem, bei dem wir nicht zur Tagesordnu­ng übergehen dürfen.

Haben die Ereignisse von Chemnitz und Köthen das Land verändert?

Was ich an vielen Stellen erlebe, ist eine Polarisier­ung und Verrohung der Sprache. Da ist es auch nicht hilfreich, wenn der Bundesinne­nminister erklärt, die Migration sei die Mutter aller Probleme. In Deutschlan­d leben 20 Millionen Menschen mit Migrations­hintergrun­d, von denen viele hier arbeiten, Steuern zahlen und Kinder großziehen. Wenn man all denen sagt, sie seien die Ursache für alle Probleme, dann ist das fatal. Das führt zu Verwerfung­en. Wie will man das wiedergutm­achen? Mein „Mutter-satz“geht anders. Ich sage: Die Mutter guter Politik ist die Anschauung vor Ort. Das ist ein Politikpri­nzip, das davon lebt, dass man sich erst einmal ein Bild macht, bevor man urteilt. Dazu gehört, dass man mit den Leuten direkt spricht. Nur so kann man verstehen, was wirklich los ist, und richtiges Handeln davon ableiten.

Sprachlich­e Verrohung ist verbreitet. Darf man Menschen „auf den Misthaufen“der Geschichte wünschen, wie es Ihr Parteifreu­nd Martin Schulz mit Afd-chef Alexander Gauland im Bundestag gemacht hat?

Ich verstehe gut, dass die Emotionen hochkochen, wenn man hört, wie die AFD argumentie­rt.

Zur Person

Die ehemalige Bezirksbür­germeister­in von Berlin-neukölln ist seit sechs Monaten Bundesfami­lienminist­erin – und damit auch zuständig für die Bundesprog­ramme gegen Extremismu­s und zur Demokratie­förderung. Die 40-Jährige wurde in Frankfurt (Oder) geboren. Neben einem Abschluss als Diplom-verwaltung­swirtin hat Giffey einen Doktortite­l im Bereich Politikwis­senschaft. Die Spd-politikeri­n lebt heute mit ihrem Ehemann und ihrem Sohn in Berlin. Die Kritik, die Martin Schulz geäußert hat, teile ich. Es war gut, hier sehr klar zu reagieren. Dennoch: Egal wie verroht und niveaulos sich andere ausdrücken, wir müssen auf unsere Sprache achten. Menschen gehören nicht auf den Misthaufen. Politik darf einen solchen Umgang nicht vorleben. Je niveaulose­r andere werden, desto mehr Niveau müssen wir beweisen.

Sie beklagen Verrohung und Polarisier­ung – was hilft dagegen?

Über 30 Millionen Menschen engagieren sich freiwillig in Deutschlan­d. Es sind diese Menschen, die unsere Gesellscha­ft und die Demokratie stark machen. Diesen Engagierte­n will Franziska Giffey (hier in ihrem Büro) beklagt eine Verrohung der Sprache – und kritisiert damit auch Parteifreu­nd Martin Schulz, der die AFD auf den „Misthaufen“gewünscht hatte. Foto: Reto Klar ich den Rücken stärken. Dazu habe ich unser Bundesprog­ramm „Demokratie leben!“entfristet. Wir stehen aber oft vor der Situation, dass wir ein sehr erfolgreic­hes Projekt in einer Kommune unterstütz­t haben. Dann müsste es eigentlich weitergehe­n. In einem zweiten Schritt müssten Projekte, die gut laufen, auch in andere Kommunen getragen werden können. Diesen zweiten Schritt dürfen wir derzeit ohne ein Bundesgese­tz nicht machen. Ich möchte, dass wir das ändern und künftig systematis­ch Initiative­n vor Ort unterstütz­en, die sich für die Demokratie stark machen. Deshalb arbeite ich für ein Demokratie­fördergese­tz.

Sind Sie auch für ein verpflicht­endes Dienstjahr für Schulabgän­ger?

Ich finde es richtig, wenn junge Leute sich für ein Jahr verpflicht­en. Einer Dienstpfli­cht für alle stehen aber hohe verfassung­srechtlich­e Hürden entgegen. Ich will deshalb den Freiwillig­endienst ausbauen. Es geht um Anreize und gute Bedingunge­n statt Zwang. Im Moment machen vorwiegend junge Menschen aus gut situierten Elternhäus­ern einen Freiwillig­endienst. Weil sie es sich leisten können, ein Jahr quasi ohne Lohn zu arbeiten. Viele andere gehen jobben oder machen eine Ausbildung, weil sie möglichst schnell ihr eigenes Geld verdienen müssen. Ich will, dass alle, die sich engagieren wollen, das auch können. Im Herbst werde ich darum Vorschläge zur Reform der Freiwillig­endienste vorlegen. Zum Beispiel wollen wir, dass junge Menschen sich auch in Teilzeit freiwillig einbringen können. Und wir prüfen, ob wir denen finanziell unter die Arme greifen können, die sonst nicht teilnehmen könnten.

Sie wollen Geld in die Hand nehmen, um der Zivilgesel­lschaft den Rücken zu stärken. Weil Sie die Demokratie in Gefahr sehen?

Ja, ich sehe derzeit Gefahren für unsere Demokratie, und ich fühle mich bedauerlic­herweise bestärkt, wenn ich sehe, wie die AFD im Bundestag auftritt. Ich verstehe gut, dass Menschen mit Migrations­hintergrun­d es mit der Angst zu tun bekommen. Das dürfen wir nicht hinnehmen. Unsere Demokratie ist stark. Aber wir müssen auch bereit sein, sie zu verteidige­n. Unverzicht­bar ist dabei das freiwillig­e Engagement von Menschen im ganzen Land.

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