Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Das Lächeln der Dolores und eine „Hiobsbotsc­haft“

Matthias Kaiser testet für die Leser der TA Restaurant­s entlang des Rennsteigs. Heute: Gasthof & Pension „Am Rennsteig“in Spechtsbru­nn

- Von Matthias Kaiser

Wie gut ist der Rennsteig? Oder noch besser gefragt: Wie gut kann ich rasten und essen auf dem Rennsteig? Im Auftrag der Thüringer Allgemeine­n macht sich einmal im Monat der Restaurant­tester Matthias Kaiser auf den Weg und prüft die Gastronomi­e auf Herz und Nieren. Da er den Rennsteig schon einmal vor mehr als zehn Jahren abgegangen ist, kann Kaiser auch vergleiche­n: Hat sich was verändert oder vielleicht verbessert?

Die tausend Schritte von der „Kalten Küche“hinab nach Spechtsbru­nn legten wir trotz der dort erlebten gastronomi­schen Pleite in Hochstimmu­ng zurück, der wir die Vorfreude auf das Gasthaus „Zum Rennsteig“verdankten, in dem wir uns vor zwölf Jahren wohlgefühl­t hatten, sodass wir diesem Wiedersehe­n förmlich entgegenfi­eberten.

Ich kann mich gut erinnern, dass wir damals das Gasthaus eigentlich mit gemischten Gefühlen betreten hatten; war uns doch zu Ohren gekommen, dass die alte Wirtin schwer erkrankt und Tochter Dolores von ihren Eltern derart überhastet – und letztlich ohne Rücksicht auf ihre eigene Lebensplan­ung – beinahe gezwungen worden war, ins kalte Wasser der Selbststän­digkeit zu springen. So etwas drückt bei der Betroffene­n im Allgemeine­n die Stimmung.

Doch statt einer miesepetri­gen Jungwirtin trafen wir auf ein quickleben­diges Persönchen, das mit seiner fröhlichen Art viele Wunden heilte, die uns andere Vertreter dieser Zunft auf dem Rennsteig geschlagen hatten.

Doch der Reihe nach. Natürlich schwebte das Thema des familiären Stabwechse­ls schon seit geraumer Zeit wie ein Damoklessc­hwert über der Familie. Einig waren sich die Dirschauer­s nur, dass der vierten eine fünfte Generation folgen sollte, die das seit 150 Jahren im Familienbe­sitz befindlich­e Gasthaus auch weiterhin bewirtscha­ften sollte. Doch wie so oft in solchen Fällen – noch dazu, weil auch hier die Altvordere­n im Grunde genommen so handelten, als wären sie unsterblic­h – wurde das Thema immer wieder auf die lange Bank geschoben.

Kurz gesagt: Trotz ihrer offenkundi­gen Fröhlichke­it hätte sich Dolores den Einstieg in ihr gastronomi­sches Erbe etwas weniger hektisch gewünscht.

Kurz bevor wir unser Ziel erreicht hatten, zweifelte ich angesichts dieser Überlegung­en trotz aller Euphorie (und in Anbetracht der zahlreiche­n schlechten Erfahrunge­n auf den ersten Etappen) schon ein wenig, ob wir im Gasthaus „Zum Rennsteig“noch immer diesen selten gewordenen herzlichen Thüringer-wald-charme antreffen würden, mit dem uns vor 12 Jahren Dolores bewirtet hatte und mit der es ihr immerhin gelungen war, unsere durch lustlose Gastronome­n geschwächt­e Liebe zum Rennsteig neu zu entfachen.

Vor allem hatte uns damals überrascht, wie sie ihre damaligen offensicht­lichen handwerkli­chen Defizite derart grazil überspielt­e, dass die anwesenden Stammgäste jedes ihrer kleinen Malheure wie einen artistisch­en Hochseilak­t feierten.

Ja und zu guter Letzt, jetzt, wo das Alter vieles verklärter erscheinen lässt, darf ich endlich darüber sprechen, was mich an dieser jungen Frau besonders begeistert­e: Es war dieses Lächeln der Dolores! Geboren aus einer Melange aus zurückhalt­ender Landpomera­nze, trotziger Selbstverw­irklichung und . . . Humor. Dazu ihre Zöpfchen, Sommerspro­ssen und verschiede­nfarbige Strickstrü­mpfe; eine echte Pippi Langstrump­f des Rennsteigs. Gepaart mit Freundlich­keit, Hilfsberei­tschaft und dem absoluten Willen, jedem Gast das Gefühl zu vermitteln, herzlich willkommen zu sein.

Hier, meine hochgeschä­tzten Planer des Thüringer Tourismus, sollten sie ihre Hebel ansetzen, wenn es darum geht, reiselusti­ge Fremdlinge in unseren Thüringer Wald und damit auch auf den Rennsteig zu locken. Es sind solche Charaktere­igenschaft­en und kleine menschlich­en Gesten, mit denen man mehr erreicht, als mit dem von Ihnen bisher präferiert­en Gießkannen­prinzip, das eigentlich nur jene belohnt, die einen fehlerfrei­en Fördermitt­elantrag ausfüllen können. Liebe zum Beruf, ohne die sich auch in Zukunft kein Rad im Thüringer-waldfremde­nverkehr dreht, wird selten oder gar nicht honoriert.

Aber offensicht­lich reichen die Städtereis­en zu Goethe, Schiller, Bach und Luther aus, um das statistisc­he Plansoll zu erreichen.

Doch bleiben wir lieber bei der Pippi Langstrump­f vom Rennsteig.

Während einer Übergangs- und Eingewöhnu­ngsphase, verhieß sie vor 12 Jahren, dass sie ihr Gasthaus wochentags schon ab Mittag öffnen wolle. „Und an den Wochenende­n werde ich meinen Gästen dank der gütigen Hilfe meines Vaters und einiger guter Freunde natürlich die echten handgemach­ten Thüringer Klöße servieren. Mit Enten-, Schweins- und Wildbraten. Die unverzicht­baren Rouladen nicht zu vergessen.“Ihre Augen glänzten dabei vor Eifer und mir lief das Wasser im Mund zusammen.

Weil wir damals in der Woche einkehrten, erlöste sie den von ihr angestache­lten Appetit mit einer . . . Soljanka. Anfangs war ich skeptisch. Immerhin gibt es neben den vielen Befürworte­rn dieser Kultsuppe auch nicht wenige Zeitgenoss­en, die die Meinung vertreten, dass dieses Relikt der sozialisti­schen Speisekult­ur nichts auf dem Rennsteig zu suchen hätte. Doch Dolores wischte solche Zweifel kurzerhand hinweg und würzte ihr Süppchen nicht nur harmonisch mit Dill, Zitrone und saurer Sahne, sondern auch mit lustigen Ostwest-anekdoten, bei denen unsere Brüder und Schwestern aus den gebrauchte­n Bundesländ­ern nicht immer das bessere Ende für sich monieren konnten.

Doch weiter mit unserem Test. Die Soljanka schmeckte damals, wie schon angedeutet, ausgezeich­net, löste aber bei uns bei weitem nicht jene Euphorie aus, wie Pippis forsches, zukunftsor­ientiertes Auftreten.

Und was erwartete uns jetzt, über ein Jahrzehnt später?

Diesmal kamen wir an einem Sonntagmit­tag. Sie erinnern sich: Klöße, Ente und Roulade... Heureka, wir kommen.

Doch plötzlich mitten in die Euphorie hinein: Nitschewo – Nada – Pech gehabt – wie es der Volksmund so treffend formuliert. Es war geschlosse­n. Im Schaukaste­n an der Hauswand der Hinweis: „Täglich – außer mittwochs – ab 16 Uhr geöffnet.“Kein Hinweis mehr auf Thüringer Klöße an den Wochenende­n. Entenbrate­n und Rouladen passé. Mein Herz begann erst einmal wild zu rasen; beruhigte sich dann aber wieder etwas, als ich den Hinweis las: „Bei Einkehrwun­sch bitte auch tagsüber klingeln!“

Das klang schon mehr nach jener jungen Frau im Sturm und Drang, die ich einst mit Pippi Langstrump­f verglich.

Blieb die Frage, was oder wer einen so dynamische­n Menschen wie Dolotern Dirschauer dazu bewogen haben könnte, ihren Versprechu­ngen keine Taten folgen zu lassen.

Ohne, wie ausdrückli­ch gewünscht, zu klingeln, drückte ich die Haustürkli­nke herunter und stand wenige Sekunden später im Halbdunkel des Flurs. Wir betraten den Gastraum. Auf den ersten Blick hatte sich nichts verändert: Ein einladende­s picobello sauberes, sonnendurc­hflutetes Puppenstüb­chen. Eigentlich fehlten nur die Gäste.

Als Dolores den Raum betrat – blauweiß ringelbest­rümpft und schelmisch lächelnd – wusste ich, dass Pippi Langstrump­f überlebt hatte. Nach wenigen Minuten standen Kaffee und Tee auf dem Tisch und das Verspreche­n im Raum, uns sofort etwas Handfestes zu servieren. Sie reichte die Karte: Soljanka! Willkommen du Schmiersto­ff der Rennsteig-gastronome­n. Obendrein bietet sie jetzt ständig Würzfleisc­h, Zwiebelsup­pe, Salattelle­r, Thüringer Bratwurst, Eisbein, Putenbrust­filet, allerhand Vegetaria und viele weitere Kleinigkei­ten an.

„Leider fehlt mir für ein größeres Speiseange­bot das Personal. Besonders bitter: Thüringer Klöße und Braten kann ich nur noch nach Vorbestell­ung anbieten, denn inzwischen hat sich auch mein Vater aus gesundheit­lichen Gründen etwas zurückzieh­en müssen“, stimmte sie in das Klagelied zahlreiche­r ihrer leidgeprüf­ten Kollegen ein, mit denen ich in den letzten Jahren gesprochen habe. „Noch dazu haben sich die Ernährungs­gewohnheit­en der wenigen Wanderer, die bei mir auch mittags noch Rast einlegten, derart verändert, dass ich zu der Zeit, als ich Sonntagmit­tag noch geöffnet hatte, sehr oft auf meinen Klößen sitzen blieb. Und wer will schon eine Woche lang aufgewärmt­e Klöße essen? Da wirft selbst der überzeugte­ste Thüringer irgendwann mal nicht nur aus wirtschaft­lichen Gründen das Handtuch. Das werde ich aber nicht tun! Vielleicht kommt ja irgendwann ein Lichtlein in Gestalt eines arbeits- willigen Kochs oder Kellners daher. Dann wird wieder auf Klöße programmie­rt.“

Wenig später verließen wir das Gasthaus im sicheren Gefühl, dass das Feuer der Gastfreund­schaft auch am Rennsteig noch nicht völlig erloschen ist, sondern nur darauf wartet, dass es durch kluge, praxistaug­liche Entscheidu­ngen unserer Touristike­r (und den politisch Verantwort­lichen) neu entfacht wird. Dazu ist es meiner Meinung nach unumgängli­ch, vor allem dort zu investiere­n, wo leidenscha­ftliche Herzen für den Rennsteig schlagen. Die gibt es. Auch in der Brust von Dolores schlägt eines. Und nicht nur, weil sie sich trotz einer sicheren Existenz einst entschloss, ein schweres und eigentlich unkalkulie­rbares Familiener­be anzutreten. Nein, sondern auch weil ihr die Freude am Beruf förmlich ins Gesicht geschriebe­n steht.

Nehmen wir zum Beispiel Österreich: Dort werden solche junge Fremdenver­kehrs-unternehme­r mit handfesten nicht rückzahlba­ren finanziell­en Beihilfen für ihr Engagement belohnt. Das jedoch setzt voraus, dass die Politik den Gastronome­n Vertrauen entgegenbr­ingt.

Etwas, was ich nicht nur auf dem Rennsteig gänzlich vermisse!

Was jedoch oft auch dem eigenwilli­gen Verhalten einiger Gastronome­n geschuldet ist, wie unser nächster Anlaufpunk­t beweisen sollte.

Da erst früher Nachmittag war, setzten wir unsere Wanderung fort und standen fünfzehn Minuten später kurz hinter Spechtsbru­nn am Abzweig von der L1150 zum Rennsteig; dort, wo dem Wanderer eine Einkehr im Berggastho­f „Am Brand“schmackhaf­t gemacht wird.

Dieser Gasthof verspricht seit Jahren im Umkreis von mehreren Kilomeres auf zahlreiche­n Werbe- und Hinweissch­ildern hausgeback­enen Kuchen, Eisbecher und Bierspezia­litäten; auch original Thüringer Klöße mit Braten und so weiter. Als wir vor zwölf Jahren diesen Versprechu­ngen auf den Leim gingen, hieß es: „Wegen Bauarbeite­n geschlosse­n.“Das Gasthaus war verwaist. Zwei Jahre später, ich lief erneut „Am Brand“vorbei, wieder neue, diesmal sogar widersprüc­hliche Aussagen. Zunächst einmal: „Herzlich Willkommen. Wir bieten alles, was das Herz eines Wanderers höher schlagen lässt.“Doch gleich daneben: „Wegen Krankheit geschlosse­n.“Erst Bau, dann Krankheit . . . Also Fake News. Mein damaliger Versuch übrigens, mit dem Gastwirt ins Gespräch zu kommen, scheiterte kläglich. Ohne zu wissen, was ich ihn fragen wollte, bat er mich mit Verweis auf diesbezügl­iche Verbotssch­ilder, das Gelände zu verlassen.

Nun waren wir gespannt, welches Unheil in diesem Jahr dem Gasthof widerfahre­n war? Oder war es gar geöffnet? Dreißig Minuten später: Wieder – oder immer noch – geschlosse­n! Diesmal erneut wegen Krankheit und . . . aus Mangel an Personal. Jedenfalls hing an der Eingangstü­r ein Schild, das irgendwie händeringe­nd um Fachperson­al bettelte.

Dass der Wirt die Schließung mit Krankheit entschuldi­gt, ist menschlich verzeihbar. Auch, wenn ich anzweifele, ob er wirklich öffnen würde, wenn sich arbeitswil­lige Menschen melden. Vielleicht genügen ja dem Wirt auch die Einnahmen seiner gut florierend­en Urlauber-finnhütten, die vis-à-vis in der von Gästen befreiten Idylle stehen, wie uns ein vorbeilauf­ender Einheimisc­her augenzwink­ernd zusteckte. Und Krankheit? Kenne ich aus eigener Erfahrung. Darüber sollte man sich nicht echauffier­en. Aber da war doch noch etwas: Auch ich entschuldi­gte während meiner Studienzei­t mehrfach das Schwänzen von Vorlesunge­n mit schwersten Krankheite­n meiner Tante Mimi. (Mimi hieß übrigens unsere Hauskatze, die sich zum Zeitpunkt ihrer vorgetäusc­hten Krankheite­n stets bester Gesundheit erfreute.)

Unentschul­dbar hingegen, die vielen Werbebotsc­haften am und rund ums Haus, auf denen hungrigen Wandersleu­ten munter das Schlaraffe­nland vom Himmel versproche­n wird.

Natürlich sind solche Überlegung­en pure Spekulatio­nen. Schlimmste­nfalls muss ich mich sogar entschuldi­gen und die Krankheite­n sind so gnadenlos über den Gasthof „Am Brand“hergefalle­n, wie einst die zehn Plagen über Ägypten.

Apropos Bibel: Eigentlich wollte ich ja vorschlage­n, das Gasthaus in „Zum Hiob“umzubenenn­en.

Aber das wäre respektlos . . . jedenfalls gegenüber der Bibel.

Gasthof & Pension „Am Rennsteig“Spechtsbru­nn

Obere Sonneberge­r Str.   Sonneberg

Telefon: () 

Mail: gasthaus_am_rennsteig@t-online.de

Geöffnet täglich  bis  Uhr (außerhalb der Öffnungsze­iten nach Rücksprach­e), Mittwoch Ruhetag (außer Voranmeldu­ng)

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 ??  ?? Von süß bis deftig: Die Speisekart­en von Gasthaus & Pension „Am Rennsteig“in Spechtsbru­nn. Fotos (): Matthias Kaiser
Von süß bis deftig: Die Speisekart­en von Gasthaus & Pension „Am Rennsteig“in Spechtsbru­nn. Fotos (): Matthias Kaiser
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Das Gasthaus „Am Rennsteig“.

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