Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Macron warnt vor Nationalismus
Französischer Präsident gedenkt mit 66 Staats-und Regierungschefs der Opfer des Ersten Weltkriegs und beschwört, Frieden über alles zu stellen
Paris. Um Punkt 11 Uhr am Sonntag und auf die Minute genau 100 Jahre nach dem Inkrafttreten des Waffenstillstands, der dem verheerenden Wüten des Ersten Weltkriegs ein Ende setzte, läuteten in ganz Frankreich die Kirchenglocken. Es war der Augenblick, als vier mit 66 Staats-und Regierungschefs besetzte Busse im Schritttempo die trotz des Regens von Hunderten Zuschauern gesäumte Pariser Pracht-avenue – die Champs-élysées – bis zum Triumphbogen hinauffuhren, wo sie vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron in Empfang genommen wurden.
Ein roter Teppich wies den Ehrengästen, unter ihnen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), den Weg zu einer vor dem Triumphbogen aufgebauten Tribüne. Allein die Präsidenten der Vereinigten Staaten und Russlands hatten aus Sicherheitsgründen darauf bestanden, in ihren eigenen Staatskarossen vorzufahren. Die Buhrufe des Publikums, die ihre verspätete Ankunft begleiteten, sowie drei Femen-aktivistinnen, die sich mit nackten Brüsten Trumps Wagen in den Weg zu stellen versuchten, sollten die einzigen „Ausrutscher“während des so sorgfältig wie aufwendig inszenierten Höhepunkts der Weltkriegsgedenkfeiern bleiben.
Macron beschwor die anwesenden Spitzenpolitiker aus aller Welt, den „Frieden über alles andere zu stellen“und die Lehre aus jenen fürchterlichen Jahren 1914 bis 1918 zu ziehen, in denen die Überlebenden einer ganzen Generation ihre Jugend, Illusionen und Ideale verloren und in denen „Europa um ein Haar Selbstmord beging“. Die „alten Dämonen“, die zum Ausbruch des Krieges und dem Tod von Millionen Menschen führten, würden wieder stärker, warnte Macron, um dann jede Form von Nationalismus aufs Schärfste zu verurteilen.
Nationalismus, so der französische Emmanuel Macron, Frankreichs Staatspräsident
Präsident, sei „das exakte Gegenteil des Patriotismus“und ein Verrat an dem europäischen Einigungswerk, welches auf der Aussöhnung zwischen Deutschen und Franzosen fuße. Wer sage, „unsere Interessen zuerst, ganz egal, was mit den anderen passiert“, der lösche das Wertvollste aus, das eine Nation habe: ihre moralischen Werte. Trump freilich quittierte diesen unzweideutigen Seitenhieb auf seinen Slogan „America First“und jüngste Äußerungen, in denen er sich selber als „absoluten Nationalisten“bezeichnet hatte, mit völlig unbewegter Miene.
Seine Ansprache schloss Macron mit einem Appell an die versammelten Staats- und Regierungschefs, gemeinsam für eine bessere Welt sowie gegen Klimaerwärmung, Armut, Hunger und Ungleichheiten zu kämpfen: „Lasst uns unsere Hoffnungen zusammenführen, statt unsere Ängste gegeneinander auszuspielen. Lasst uns einstehen für den Frieden zwischen den Völkern und den Frieden zwischen den Staaten!“
Wie jedes Jahr am 11. November und zu den Klängen von Ravels „Bolero“, entzündete Macron anschließend die ewige Flamme unter dem Pariser Triumphbogen symbolisch neu. Sie gehört zu einem Grabmal, in dem 1921 der Leichnam eines nicht identifizierten Gefallenen bestattet wurde, und soll an die 1,4 Millionen französischen Soldaten erinnern, die im Ersten Weltkrieg getötet wurden.
Entgegen der ursprünglichen Tradition war Frankreichs nationaler Feiertag gestern nicht dem Sieg über Deutschland, sondern der Ermahnung zum Frieden gewidmet. Allerdings sorgten die der Anwesenheit von 93 hochkarätig besetzten Delegationen aus aller Welt geschuldeten Sicherheitsmaßnahmen für einen martialischen Rahmen. Während Schnellboote von Eliteeinheiten der Gendarmerie auf der Seine patrouillierten und Scharfschützen auf den Dächern im Pariser Zentrum Position bezogen, sperrten nicht weniger als 10.000 Polizisten weite Teile der Hauptstadt ab und „filterten“alle Passanten.
Rigoros waren auch die Sicherheitsvorkehrungen, welche am Sonnabend eine hochsymbolische, deutsch-französische Zeremonie abschirmten, die auf einer Waldlichtung unweit der nördlich von Paris gelegenen Kleinstadt Compiègne stattfand. Dort, wo vor 100 Jahren in einem Eisenbahnwaggon der für das Deutsche Reich demütigende Waffenstillstand besiegelt wurde, trafen sich Macron und Angela Merkel, um zwei Gedenktafeln zu enthüllen, die auf Deutsch und Französisch die „Bedeutung der deutsch-französischen Aussöhnung im Dienste Europas und des Friedens“unterstreichen. Die beiden Steintafeln fanden ihren Platz direkt neben einer Marmorplatte, die auf die hier besiegelte Niederlage des Deutschen Reichs verweist, „besiegt von den freien Völkern, die zu unterjochen es beansprucht hatte“. Die Geste war dem Willen des Élysée-palasts geschuldet, einen „Ort der Vergeltung“in einen „Ort der Aussöhnung“zu verwandeln. Hitler nämlich hatte die Franzosen 1940 nach dem deutschen Einmarsch gezwungen, ihre Kapitulation an gleicher Stelle und in dem gleichen Waggon zu unterzeichnen, dessen am Ende des Zweiten Weltkriegs zerstörten Nachbau eine sichtlich ergriffene Kanzlerin gemeinsam mit dem französischen Präsidenten besichtigte.
Merkel verstand die Geste so, wie sie gemeint war: als großen Freundschaftsbeweis. Es war das erste Mal überhaupt, dass ein hoher Repräsentant Deutschlands offiziell zu einem Besuch der Gedenkstätte eingeladen wurde. „Damals“, so erklärte die Kanzlerin, „ist es nicht gelungen, durch einen Waffenstillstand für einen dauerhaften Frieden zu sorgen. Ich sehe das nicht nur als eine Mahnung an, sondern auch als eine Verpflichtung, alles zu tun, um eine dauerhafte friedliche Ordnung zu schaffen.“
Als eine weitere Geste gegenüber dem früheren „Erbfeind“darf auch die Bitte Macrons an die Adresse Merkels gelten, mit einer Rede das gestern in Paris organisierte „Friedensforum“zu eröffnen. An der Diskussionsveranstaltung, auf der die meisten der nach Paris gereisten Staats- und Regierungschefs multilaterale Initiativen zur Förderung des Friedens, der Entwicklungshilfe und des Umweltschutzes anstoßen sollen, wollte „Unilateralist“Donald Trump auf keinen Fall teilnehmen. Der Us-präsident holte stattdessen den Besuch eines amerikanischen Soldatenfriedhofs nach, den er am Vortag wegen schlechter Wetterbedingungen im letzten Augenblick abgesagt hatte.
„Lasst uns unsere Hoffnungen zusammenführen, statt unsere Ängste gegeneinander auszuspielen. Lasst uns einstehen für den Frieden zwischen den Völkern und den Frieden zwischen den Staaten.“
Trump wollte nicht zum Friedhof