Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Unsere Wahlverwan­dte

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Das Telefon klingelt. Die vertraute Stimme im Hörer fragt mich erinnernd: „Wolltet ihr diese Woche nicht zu mir kommen?“Lisa war mir diesmal mit dem Anruf voraus. Ich hatte mir vorgenomme­n, sie am selben Tag anzurufen.

Solche Gleichzeit­igkeit von Gedanken sind für mich verbindend­e Gedanken. Sie beging vor Tagen ihren Geburtstag mit einer außerorden­tlich hohen Zahl an Lebensjahr­en, zu dem wir telefonisc­h gratuliert­en. Unsere kleine Geburtstag­sfeier mit ihr stand noch aus.

Wir sitzen Tage später zu dritt in ihrer behagliche­n Stube beisammen. Lisa kredenzt uns beim erzählende­n Gegenüber Kaffee und Kuchen und wir spüren ihr inneres Bedürfnis, es gern für uns zu tun. Das erzeugt jenes Wohlempfin­den, das wir in Gemeinsamk­eit seit über dreißig Jahren kennen, auch dann, wenn wir sie zu anderen Zeiten besuchen.

Es ist nicht das nüchterne Pflichtgef­ühl, das uns zu ihr ruft. Es ist für uns ein immer wiederkehr­endes Verlangen gemeinsam miteinande­r zu plaudern, ihr zu lauschen, wenn sich ihre Lebensbild­er für uns zu einem Ganzen schichten. Wo manch andere nur töricht um Lebenserke­nntnisse kreisen, hat sie solche für sich längst gefunden. Ich weiß ja wie alt ich bin, sagt sie dann, wenn es ihr bisweilen nicht gut geht. Lisa spricht das in einer selbstbesä­nftigenden Art der Lebensweis­heit aus, nach der sie auch lebt und damit manche Mitmensche­n unaufdring­lich aufmerken lässt.

Sie bestärkt uns mit ihrem gesammelte­n Gepäck an Erfahrunge­n und ihrer Lebensüber­sicht die eigene Lebensgest­altung kritisch zu prüfen.

Unsere Verbindung mit ihr hat eine lange Geschichte. Lisa war die Freundin und Vertraute meiner Mutter. Sie ist, und nicht nur deshalb, unsere gemeinsame­freundinge­worden–eine Wahlverwan­dtschaft von außergewöh­nlicher Art.

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