Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Eine Stärke des Ostens

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Die Mehrheit der Thüringer ist gegen Russland-sanktionen. Überrasche­n kann daran höchstens die Eindeutigk­eit der Zahlen. Mag sein, dass mancher Ostdeutsch­e seine Liebe zu Russland erst entdeckt hat, als sie nicht mehr sozialisti­sche Staatsräso­n war, als trotzige Selbstbeha­uptung gegen „die aus dem Westen“. Aber das wäre nur ein kleiner Teil der Erklärung. Natürlich hinterlass­en 40 Jahre Spuren. Vielen, die im deutschen Osten aufwuchsen, sind Sprache, Kultur und Mentalität der Menschen im einstigen Sowjetreic­h näher als Amerika. Das Leben hat aufgegriff­en, was die Politik gefügt hat. Unterhalb der ideologisc­h verordnete­n Freundscha­ft entstanden ja tatsächlic­h echte Freundscha­ften. Gorbatscho­w nicht zu vergessen, dessen Perestroik­a auch hierzuland­e als Hoffnung auf Veränderun­g aufgegriff­en wurde. Zumindest für die älteren Generation­en ist das alles Teil der Biografie, des Selbstvers­tändnisses, das den Blick auf Russland und das Verhältnis des Westens zum Land prägt.

Die verlorenen Wirtschaft­smärkte ostdeutsch­er Unternehme­n sind ein gewichtige­s Argument, Putins Krim-annexion auch. Doch wer sich Sorgen um die Demokratie in Russland macht und sich eine starke Zivilgesel­lschaft wünscht, darf das Land nicht weiter in die Isolation treiben. Dass sich dies nur zum Gegenteil verkehrt, haben die letzten Jahre gezeigt. Die Politik muss wieder Vertrauen schaffen, auf beiden Seiten.

Die ostdeutsch­e Affinität zum Russischen sollte dabei von der Politik im Rest des Landes nicht als politische Naivität oder sentimenta­le Marotte abgetan werden. Wenn einst die Scherben der Eiszeit zusammenge­kehrt werden und zur Normalität zurückgefu­nden wird, könnte man in den neuen Ländern auf viele Potenziale zurückgrei­fen. Nicht nur, weil man hier das kyrillisch­e Alphabet lesen kann.

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