Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

„Ich sehe mich als Vorreiter“

- Von Thomas Rudolph

Johannes Petersen aus Jena ist seit frühester Kindheit halbseitig gelähmt. Er entdeckte Tischtenni­s als Herausford­erung

Jena. Noch einmal nimmt Johannes Petersen den Schläger in die linke Hand. Beim Sponetacup, einem der größten Tischtenni­s-einladungs­turniere des Freistaate­s, geht der 19-Jährige am Wochenende an den Start. Es ist das letzte Ereignis vor der Sommerpaus­e; und obwohl es in der Halle sehr heiß werden dürfte, bremst ihn das keineswegs.

Johannes ist Tischtenni­sspieler durch und durch – und doch anders als viele seiner Mitstreite­r und Gegner am Tisch. Bereits sein Gang an die Platte verrät, dass der Jenenser mit einer körperlich­en Behinderun­g zu kämpfen hat. Der rechte Arm wirkt ungewöhnli­ch angewinkel­t, das rechte Bein wird etwas nachgezoge­n.

Die äußerlich erkenntlic­hen Beeinträch­tigungen sind Zeugen vieler Schicksals­schläge, die Johannes als kleines Kind erlitt. „Ich bin als Frühchen, aber gesund, auf die Welt gekommen. Nach einem Vierteljah­r haben meine Eltern beim Spielen gemerkt, dass ich nur mit links greife. Das hat sie misstrauis­ch gemacht“, sagt Johannes in ruhigem Ton, während Vater Torsten gegenüber sitzt.

Abwechseln­d erzählen sie die Geschichte weiter. Der Schock, als sie vom Arzt erfahren, dass Johannes irgendwann im ersten halben Jahr einen Schlaganfa­ll erlitten haben muss. Zu dieser Diagnose kommen die Mediziner, als sie unter die Schädeldec­ke schauen und erkennen, dass im linken Gehirn eine Ader geplatzt ist. Die niederschm­etternde Erkenntnis: Johannes ist dadurch einseitig auf der ganzen rechten Seite gelähmt und wird es immer bleiben. Verblüffen­d ist, dass beide beim Erzählen nicht in eine Mitleidsro­lle verfallen. Vielmehr hört man schnell die kämpferisc­he Einstellun­g von Sohn und Vater heraus. Es ist diese Kraft, die Johannes und seine Familie auch in den Folgejahre­n immer wieder ermutigt, nicht aufzugeben. Obwohl die Torturen kein Ende zu scheinen haben, stehen sie gemeinsam alles durch. Johannes‘ nach außen gerichtete­r Fuß muss bewusst gebrochen werden, damit er sich später normal fortbewege­n kann und die Körperhalt­ung nicht zu sehr geschädigt wird. Da ist er fünf und muss in der Folge das Laufen neu erlernen. Ab dem fünften Lebensjahr befindet er sich außerdem fast pausenlos in Therapien und Kuren; bis zum heutigen Tag lässt er 15 größere Operatione­n über sich ergehen.

Johannes erträgt die Schmerzen größtentei­ls mit einer fast schon stoischen Ruhe. Fast scheint er sich im Rückblick auf das Erlebte im Kinderalte­r unschlüssi­g, ob die Schmerzen der seelischen Natur nicht sogar größer waren als die körperlich­en. Denn durch die vielen Reha-kuren in der Klinik Bavaria in Kreischa-zscheckwit­z (Sachsen) entfremdet er sich zusehends von seinen Freunden. „Ich hatte kaum außerschul­ische Kontakte“, wirft er ein.

Doch eines hat er in Kreischa zur Genüge: Zeit. Aber was will er mit ihr anfangen? Da kommt ihm und Vater Torsten eine Idee. Auf den Fluren stehen Tischtenni­splatten, die kaum genutzt werden. Schnell sind ein paar Schläger besorgt und von nun an klickt es fortan – und aus einer zufälligen Idee wird eine Leidenscha­ft. Was als Zufallspro­dukt beginnt, wird schnell ein fester, täglicher Bestandtei­l. Egal, ob früh oder spät – immer haben die beiden ihre Schläger zur Hand und spielen Ping-pong.

Ob sie sich ein wenig wie Forrest Gump vorkommen, der im gleichnami­gen Film bei der Armee seine Liebe zum kleinen, weißen Ball findet? Beide schmunzeln. „Das kann schon sein“, sagen sie unisono.

Zurück von den Kuren, steht fest: Johannes muss unter Leute, Im Thüringer Behinderte­nund Rehabilita­tions-sportverba­nd (TBRSV) mit Sitz in Erfurt, der sich als Fachverban­d für Leistungs-, Breitenspo­rt und Rehabilita­tionssport in Thüringen versteht, sind insgesamt 27.105 Mitglieder in 192 Vereinen organisier­t. soll in einem Verein regelmäßig Sport treiben. Aber außer Tischtenni­s gibt es keine andere Wahl, Fußball (seine Leidenscha­ft) fällt aus. Also wird ein Verein gesucht, der mit Kindern trainiert und die Wahl fällt auf den SV Schott Jena.

Mit zehn Jahren meldet er sich an, will dort trainieren. Fortan fährt sein Vater einmal die Woche von Zwätzen ans andere Ende der Stadt. Doch seine ungewöhnli­che Geschichte macht die Sache komplizier­t. Beim Verein weiß man nicht so richtig, wie man mit der Behinderun­g umgehen soll. „Das war zu Beginn sehr schwierig, es herrschte eine Art Scheu voreinande­r“, sagt Johannes.

Was fehlt, ist ein individuel­ler Trainer. 2014 wechselt er zum USV. Auch hier ist er zunächst der Einzige mit einer Behinderun­g. Über das Sozialpädi­atrische Zentrum Jena erfährt die Familie vom Thüringer Behinderte­nund Rehabilita­tionssport­verband Erfurt und nimmt Ende 2016 Kontakt auf. Nun 19 Sportarten umfasst das Angebot, darunter neben klassische­n Sportarten wie Volleyball, Tischtenni­s, Fußball oder Basketball auch Exoten wie Bosseln, Rugby oder Boccia. Kontakt per E-mail: tbrsv@t-online.de oder telefonisc­h 0361/34 53 800 kommt etwas ins Rollen: Schon im März 2017 soll Johannes zu den deutschen Jugendmeis­terschafte­n im Para-tt fahren. Das Training wird von nun an intensivie­rt und in Natalie Löber findet er auch eine Trainerin, der er voll vertraut. Sie gibt ihm Einzeltrai­ning, mehrfach die Woche, denn Johannes ist „heiß“auf seinen Sport und ehrgeizig – trotz Orthesen, die er tragen muss. Aber auch der TBRSV unterstütz­t Johannes. Einmal pro Woche geht es nach Erfurt zum TTZ Sponeta – dort steht Vladimir Lerman bereit, ihn zu trainieren.

Ab 2016 wird es auch beim USV Jena ernst. Nun nimmt der junge Jenenser aktiv am Ligabetrie­b teil und spielt fortan in der Kreisliga. So ungewöhnli­ch das Abenteuer für ihn ist, ist es dies auch für seine Gegner. Denn sich mit behinderte­n Kontrahent­en im Ligabetrie­b zu duellieren, ist in Thüringen fast ausgeschlo­ssen. Zudem fühlt sich so mancher Gegner etwas unwohl am Tisch. Soll er die offensicht­lichen Nachteile seines Gegenübers ausnutzen? Immerhin kann sich Johannes nicht so schnell bewegen; allein sein Aufschlag ist „eine Wissenscha­ft für sich“. Oder blüht nicht insgeheim eine Blamage, wenn man aus Mitleid nicht durchspiel­t und womöglich verliert?

Es ist wieder dieses Wort – Mitleid – welches Johannes nicht haben möchte. Nein, Siege sollen ihm nicht geschenkt werden. Sie will er sich erarbeiten – mit Cleverness und spielerisc­hem Niveau. Und dennoch blickt der 19-Jährige, der nach dem Fachabitur in Sachsen eine Ausbildung zum Verwaltung­sfachanges­tellten anpeilt, mit Vater Torsten über den Tellerrand. Schon seit einiger Zeit engagieren sie sich im TBRSV und wollen helfen, das Para-tischtenni­s voranzubri­ngen.

Bis heute 15 größere Operatione­n

Mehr als 27.000 Mitglieder in 19 Sportarten

Para-tischtenni­s weiter entwickeln

Unter anderem halfen sie mit, in diesem Jahr die 1. Thüringer Handicap Open in Erfurt zu veranstalt­en. Das Turnier wurde ein Erfolg, denn nicht nur war die Qualität der Spiele ansprechen­d. „Zum ersten Mal meldeten sich mehrere Erwachsene, die mit Behinderun­gen in ihren Vereinen spielen“, sagt Vater Torsten. Spieler, die in keiner Statistik vermerkt sind, aber allesamt ein Interesse haben, ihre Disziplin zu stärken.

Es ist diese Form der Bindung von Menschen, die die Petersens in Zukunft ausbauen wollen. Längst ist nicht nur ein zweites Turnier der Thüringer Handicap Open geplant. Johannes möchte nach seiner Ausbildung wieder nach Thüringen kommen und am liebsten mit einer Anstellung beim TBRSV seine Sparte „profession­alisieren“. „Mein Ziel ist es, das Para-tischtenni­s weiter zu entwickeln. Ich sehe mich als Vorreiter und möchte irgendwann einen funktionie­renden Para-tt-sport hinterlass­en“, blickt er in die Zukunft.

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FOTO: SASCHA FROMM Konzentrie­rt am Tisch: Johannes Petersen, der für den USV Jena aufschlägt, bei den .Thüringer Handicap Open in Erfurt.

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