Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Fremdes Land
Was passiert mit uns, wenn wir altern? Psychotherapeutin Claudia Rühlemann über Verlustbilanzen, Ängste, Anpassung und wie man trotzdem gelassener alt werden kann
Erfurt. Claudia Rühlemann (57) arbeitet in einem Bereich, der lange Zeit als ein weißer Fleck in ihrer Branche galt: Die Erfurterin bietet Psychotherapie für alte Menschen an. Auch wenn heute im Zuge der Altersforschung viel in Bewegung ist, werden psychische Probleme im Alter noch zu wenig beachtet, bleiben große Gruppen Älterer unterversorgt, sagt sie.
Wann ist der Mensch alt? Wenn Sie eine Zahl wollen, wird es schwierig. Man könnte normierte Werte nehmen – für die Weltgesundheitsorganisation beginnt Alter mit 65, wenn der Ruhestand beginnt. Aber viele Menschen fühlen sich da noch gar nicht alt, was ein 20-Jähriger anders sieht. Alter ist eine Frage der Perspektive und des subjektiven Empfindens.
Dann sprechen wir besser vom Altern. Das beginnt, heißt es, wenn die Vergangenheit wichtiger wird als die Zukunft. Stimmen Sie zu?
Altern ist ein lebenslanger Prozess. Jedes Alter hat seine entwicklungsspezifischen Anforderungen, mit Gewinnen und Verlusten. Natürlich wird die Verlustbilanz mit zunehmendem Alter größer, das heißt aber nicht, dass es nicht auch Gewinne geben kann.
Welche sollten das sein? Gewinn an Freiheit zum Beispiel, wenn man aus dem Berufsleben kommt. Früher war man mit 60, 65 Jahren alt, es wurde kaum differenziert. Inzwischen hat sich zwar einiges getan, aber das stereotype Bild vom Alter, das nur noch aus Defiziten besteht, hält sich hartnäckig. Dabei ist es zum Beispiel ein Mythos, dass Leistungsfähigkeit im Alter per se schwindet.
Was stimmt daran denn nicht?
Nehmen wir die Intelligenz. Psychologen unterscheiden zwischen der fluiden und kristallinen Intelligenz. Erstere beschreibt die Fähigkeit, Probleme zu lösen, und die Flexibilität. Das geht tatsächlich zurück. Aber dieser Prozess beginnt schon mit 25 bis 30 Jahren. Die kristalline Intelligenz, die das Erfahrungswissen meint, bleibt dagegen bis ins hohe Alter erhalten.
Umfragen zufolge sind 70-Jährige oft zufriedener mit ihrem Leben als Menschen um die 50. Ist alt sein einfacher als alt werden?
Das könnte man sagen, man nennt diesen Effekt Wohlbefindens-paradox. Menschen lernen, ihre eigenen Fähigkeiten besser einzuschätzen, sie passen sich an. Jeder kennt das Gefühl, dass nicht mehr alles möglich ist. Man kann das ignorieren, dann wird die Diskrepanz zur Realität immer größer, das macht unzufrieden bis hin zu depressiven Zuständen. Oder man passt seine Ziele an die veränderten Lebensbedingungen an und fragt sich realistisch, ob es auch etwas weniger sein kann.
Altern braucht Anpassung, die man bewusst gestalten kann?
Ja, unbedingt. Ich finde das Beispiel des begnadeten Pianisten Artur Rubinstein eindrucksvoll. Er zog sich nicht zurück, hat noch im hohen Alter grandios gespielt. Aber nicht alle Stücke, er hat selektiert, hat sie geübt und mit Tricks gearbeitet: Vor schnellen Passagen hat er das Tempo verlangsamt, damit die Übergänge nicht so auffallen. Er hat geschickt seine Ressourcen betont und nicht die altersbedingten Defizite. Aber es gibt im hohen Alter natürlich auch Grenzen für das Erleben von Wohlbefinden.
So viel kritische Selbstreflexion verlangt eine Menge. Gibt es Erfahrungswerte, an welchen biografischen Brüchen dieses Hinterfragen einsetzt? Oft ist es der Übergang in den Ruhestand. Für Männer ist er in der Regel schwieriger, weil ihr Selbstbild stark an den Status im Erwerbsleben gebunden ist. Sie schlittern gewissermaßen in das Alter hinein, ihre Verdrängungsmechanismen sind ausgefeilter. Sie sind geübt, Krisen zu verleugnen, mit Aktionismus zu überspielen oder sie am besten gar nicht als solche wahrzunehmen, und überfordern sich dabei. Die größte Überraschung im Leben eines Mannes ist das Alter, hat Tolstoi gesagt. In diesem Satz steckt viel Wahrheit.
Frauen altern gelassener? Zumindest sind sie trainierter, weil sie zum Beispiel durch die Kindererziehung schon öfter aus dem Beruf ausgestiegen sind. Sie beziehen Selbstwert und Identität aus mehreren Lebenskreisen, setzen sich offensiver mit ihren Gefühlen auseinander und holen sich auch schneller Hilfe. Es ist kein Zufall, dass mehr Frauen psychotherapeutische Unterstützung suchen.
Was Männern schwerer fällt. Das hat auch mit kulturellen Normen zu tun: keine Schwäche zeigen, Probleme nicht nach außen tragen, über Gefühle spricht man ohnehin nicht. Mit diesem Männlichkeitsideal sind diejenigen aufgewachsen, die heute um die 75 bis 80 Jahre alt sind. Altern als Prozess muss immer auch historisch gesehen werden. Was heißt, die heute 30-jährigen Männer werden anders altern?
Davon gehe ich aus. Wir haben eine neue Generation, die auch ganz anders in ihre Rollen als Väter und Großväter hineinwachsen. Was einst weiblich dominiert war, gleicht sich an.
Kann man glücklich altern? Wenn man reflektieren, Veränderungen bewusster und akzeptierender wahrnehmen kann. Dieser Prozess beginnt aber nicht erst mit 60 Jahren, er basiert auf Bewältigungsstrategien, die man ein Leben lang erlernt hat. Natürlich tauchen im Alter viele Fragen kompensierter und gleichzeitig auf. Aber bewältigte Krisen im Leben können schon mal eine gute Grundlage sein, auch mit dem Altern besser klarzukommen.
„Man ist so alt, wie man sich fühlt“heißt es so schön. Ist der Satz am Ende kontraproduktiv, weil er zur Verdrängung des Alterns verleitet? Verdrängung ist manchmal sinnvoll, auch das gern postulierte Bild vom dynamischen Alter und neuen Aufbrüchen schadet nicht. Aber es gibt eben auch die Schattenseiten. Die Frage, was jenseits des sogenannten jungen Alters passiert, wird oft ausgeblendet, sie hat mit Prozessen zu tun, die uns ängstigen.
Mit welchen Problemen kommen die Menschen zu Ihnen? Es gibt Patienten, vor allem Kriegskinder, bei denen frühe traumatische Erfahrungen aufflammen. Jahrelang hat man funktioniert, hat gearbeitet, Kinder groß gezogen. Dann kommen plötzlich alte Traumata hervor, weil die seelischen Abwehrmechanismen nachlassen. Oder der Umgang mit chronischen Mehrfacherkrankungen, funktionellen Einbußen oder mit umfassenden Verlusten, wie des Partners, des sozialen Netzes, der Selbstständigkeit. Das alles kann seelische Krisen verursachen, die behandlungsbedürftig und auch behandlungsmöglich sind. Wir haben bei Älteren die höchsten Suizidraten in der Gesamtbevölkerung, das ist kaum bekannt.
Psychotherapie für alte Menschen galt lange Zeit als vergebliche Mühe . . .
Weil angeblich zu viel Biografie aufgearbeitet werden muss. Das ist inzwischen widerlegt, es gibt veränderte Ansätze, die einen Fokus bearbeiten. Sturzangst zum Beispiel ist ein großes Thema. Hier muss man nicht in der Kindheit ansetzen. Auch wenn vieles inzwischen in Bewegung ist: Psychische Probleme im Alter werden bis heute oft nicht genügend ernst genommen. Nach dem Motto: Niedergeschlagenheit gehört nun einmal zum Alter dazu. Wir brauchen viel mehr professionelle Hilfsangebote, zu denen die Betroffenen einfacher und schneller Zutritt finden. Haben Sie Angst vorm Alter? Wer hat die nicht. Vor allem davor, Autonomie zu verlieren.
Was hilft Ihnen?
Ich versuche mir schon jetzt aktiv das Alter anzueignen, das innere Fremdheitsgefühl bewusster und akzeptierender wahrzunehmen und offensiver das Gespräch darüber zu suchen.
Das Alter bleibt ein fremdes Land. Eine Kränkung, der wir nicht entkommen?
Viele empfinden das zumindest so. Altern ist auch eine besondere Herausforderung an unser seelisches Gleichgewicht. Es hat eine existenzielle Dimension. Lebenszeit verkürzt sich, die Fantasie von der eigenen Unverletzlichkeit und Unsterblichkeit, der wir uns in jungen Jahren hingeben, ist vorbei. Alter hat viel mit Schamgefühlen zu tun. Man zieht sich zurück, man gerät in Sprachlosigkeit. Der Rollator, die Falten, das nachlassende Gehör, die Vergesslichkeit: Man ist beschämt davon, was einem passiert. Altern ist auch eine große Anpassungsleistung und gehört zum Menschsein dazu. Ich würde mir wünschen, dass dies in der Gesellschaft mehr gesehen und gewürdigt wird.