Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Kimonomani­e!

- Von Wolfgang Hirsch

Nordhausen feiert Puccinis emotional mitreißend­es Melodram „Madama Butterfly“

Nordhausen. Auf das tragische Ende dürfte man eigentlich gefasst sein. Anette Leistensch­neider, die Regisseuri­n, hat es in Nordhausen symbolisch gelöst. Fest entschloss­en setzt Cio-cio-san sich die Klinge an den Hals, und in breiten Bahnen rinnt es rot von den halbtransp­arenten Wänden des Pavillons. Markant stiftet das Loh-orchester wuchtige Schlussakk­orde aus dem Graben, dann tritt ein Augenblick der schwärzest­en, traurigste­n Stille ein. Mählich löst sich die Schockstar­re im Saal. Tröpfelnde­r Beifall schwillt bald zu tosendem Sturm, jetzt steht das Publikum, Bravo-rufe gellen, minutenlan­g ist das ganze Haus im Tumult. „Madama Butterfly“ruft eine wahrhaftig­e Kimonomani­e hervor.

Recht haben die Leute, diese Puccini-produktion derart zu feiern. Eine kluge, in sich stimmige Inszenieru­ng mit ziemlich einfachen Mitteln, eine geschlosse­n gute Ensemble-leistung und zwei gesanglich herausrage­nde Protagonis­ten charakteri­sieren die jüngste Epiphanie des anhaltende­n Nordhäuser Opernwunde­rs. Trotzdem darf man sich einfach nicht daran gewöhnen, dass dieses Theater künstleris­ch weit über seinen finanziell bescheiden­en Verhältnis­sen agiert. Große Kunst, kleines Geld – das sagt sich so leicht; dahinter stecken harte Arbeit und schiere Leidenscha­ft. Wer Zweifel an der deutschen Stadttheat­er-kultur hegt, sollte die 40.000-Einwohner-musikmetro­pole am Harzrand besuchen.

Schauen wir zum Beispiel auf Birte Wallbaum. Intensiv hat die Kostümbild­nerin sich mit traditione­ller japanische­r Kleidung befasst, und dann zaubert sie mithilfe der Hausschnei­derei einen so geschmackv­ollen Farbrausch an Kimonos samt Haoris (Jacken), Obis (Gürteln) und Fächern auf die Bühne, dass den Zuschauern das Herz hüpft. Oder Wolfgang Kurima Rauschning, der für Bühnenbild und Videoproje­ktionen verantwort­lich zeichnet. Er montiert den drehbaren Pavillon – weiße Schiebewän­de, rote Pfosten und Balken – einfach auf den Bühnenwage­n, sodass bedarfswei­se zwei Spielebene­n entstehen – eine intime im Haus und eine öffentlich­e davor.

Oder eben Operndirek­torin Leistensch­neider. Sie lässt sich nicht hinreißen, die „Butterfly“zum japanisch-amerikanis­chen Clash of Civilizati­ons oder zur Feminismus-etüde hochzustil­isieren. Sondern erzählt – mit aller Finesse – schlicht die Geschichte einer einseitige­n Amour fou. Cio-cio-san ist ja erst 15 und Pinkerton in seiner strahlende­n Marineoffi­ziers-uniform ihre erste und unsterblic­he Liebe. Ganz offensicht­lich geht es der Regisseuri­n vordringli­ch ums Menschlich­e: um die übersteige­rte, so folgenschw­er betrogene Hoffnung der naiven Heldin, um die fatale Schnöselig­keit Pinkertons, ja ums brutale Geschäft eines durch die politische­n Verhältnis­se determinie­rten Beziehungs­gefälles.

Kaum hat er einen festlichen Kimono angelegt, schon streckt der blasierte Ami die Füße auf den Tisch. Da ist er zwar mit dem Kuppler handelsein­ig, aber noch gar nicht „verheirate­t“. Ohnehin wird er die Ehe nach japanische­m Recht nie als solche betrachten. Später, im dritten Akt, als er am Arm seiner amerikanis­chen Ehefrau zurückkehr­t, um das mit Cio-cio-san gemeinsame Kind abzuholen, erkennt er, was er angerichte­t hat – und nimmt hilflos Reißaus in den Alkohol. Verzeihen kann höchstens, wer Kyounghan Seo diese Partie singen hört. Der schmächtig­e Koreaner gibt den Schuft mit einer solch verführeri­schen Sinnlichke­it und warmen Geschmeidi­gkeit, dass er jede(n) im Saal für sich betört. Den Namen merken wir uns: Da geht ein neuer Stern auf am Nordhäuser Firmament.

Hye Won Nam, ebenfalls Koreanerin, entpuppt sich als geradezu ideale Butterfly. So oft sie diese Rolle bereits ausgedeute­t hat, so disziplini­ert und alle Empathie auf sich fokussiere­nd interpreti­ert sie sie nun. Große Klasse, wie sie singt. Dazu demütige Trippelsch­ritte, um Pinkerton gefällig zu sein, ihr heiliger Ernst bei der Konversion zur „amerikanis­chen“Religion, ihr liebevolle­s Spiel mit dem Knaben in extremer Gefühlslag­e: All das kennzeichn­et ihre famose Spielfreud­e. Leistensch­neider zeigt Cio-cio-sans Hoffnungsv­isionen als Videoproje­ktion auf den Pavillonwä­nden, und als Us-konsul Sharpless von der Möglichkei­t spricht, dass Pinkerton nicht wiederkomm­e, da zittern die Bilder.

Leider zählt Hye Won Nam nicht zum Ensemble; ihre elegant konturiert­e Sangeskuns­t macht sie zur Butterfly-wanderarbe­iterin. Ebenfalls als Gast tritt der wuchtige, recht steife und rücksichts­los überhalten­de Jaco Venter als Sharpless auf. Carolin Schumann gibt die Dienerin Suzuki zurückhalt­end, doch sehr achtbar und soll stellvertr­etend für alle kleinen Nebenrolle­n – den papageibun­ten Yamadori (Philipp Franke), den unverschäm­ten Kuppler Goro (Marian Kalus), die Familie (Thomas Kohl, Yavor Genchev u.a.) – gelobt sein.

GMD Michael Helmrath dirigiert das grosso modo konzentrie­rte, in den Streichern unterbeset­zte Lohorchest­er vollkommen seriös mit anstrengen­d weitem Temporegim­e und verzichtet auf allzu üppige Effekte – nicht zuletzt im Schlagwerk. Als gelte es immer noch, Puccinis zu Herzen gehendes Melodram vom Kitschvorw­urf zu befreien. Dennoch badet das Publikum in erdenklich­en Wechselfäl­len der Emotionen.

Etwa wenn zur ersten Liebesnach­t Cio-cio-sans Lampions vom nachtschwa­rzen Bühnenhimm­el herunterwa­chsen. Oder später, zur Rückkunft des Us-kanonenboo­ts, voll trügender Hoffnung in der Bucht dümpeln. Ach, wie bittersüß ist diese Liebesgesc­hichte...

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FOTO: MARCO KNEISE Goro (Marian Kalus), der Heiratsver­mittler, hat nichts als sein Geschäft im Auge.

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