Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Brüder im Geiste – und aus der Ferne
Jazzpreisträger Miguel Zenón und Weltstar Avishai Cohen begegnen sich auf der Bühne nicht, aber in den musikalischen Spurensuchen
Weimar. Miguel Zenón rührt mit seinem Altsaxofon virtuos in der Soße. Angesetzt wurde sie gleichsam vor Jahrhunderten, als die Alte Welt auf die Neue traf, als das Europäische lateinamerikanisch wurde, als es einen anderen Kontinent veränderte und den eigenen am Ende gleich mit. Soße heißt auf Spanisch: Salsa.
Zenón, einer von über einer Million Puertoricanern in New York, spürt im modernen, immer noch vom Bebop geprägten Metropolen-jazz die traditionelle Salsa auf, in Liedern des afro-karibischen Sängers Ismael Rivera, dem sein Quartett das neue Album namens „Sonero“widmet. Mit vier Stücken daraus (Zugabe inklusive) bewiesen die Musiker binnen vierzig Minuten in der Weimarhalle, dass sie den mit 11.000 Euro dotierten „Achava Jazz Award“soeben völlig zu Recht erhalten hatten.
Unter der Flagge des Königshauses Kastilien landete Kolumbus 1492 in Amerika und ein Jahr später dort, wo wir Puerto Rico verorten. Zeitgleich vertrieb dieses katholische Königshaus sephardische Juden aus seinem Land, sofern sie nicht konvertierten.
Das Lied „Arvoles“erinnert uns daran. Es gibt dem jüngsten Album des Trios um den Bassisten Avishai Cohen aus Israel nicht nur den Titel. Kantilenenhaft nehmen Cohen und Pianist Elchin Shirinov aus Baku es auf, bevor das Trio darüber im zweiten Teil des Abends improvisiert, wie auf Wanderschaft befindlich.
Keine Wanderschaft, sondern eine Prozession vollzieht indes das Zenón-quartett nach, wenn es den Nazaräer umspielt: „El Nazareno“, die schwarze Christus-statue in Portobelo (Panama), die Ismael Rivera einst besang und übrigens auch anbetete.
Derart, programmatisch, begegneten sich im Jazzkonzert die Kulturen. Zenón und Cohen begegneten sich auf der Bühne nicht. Der Preisträger wurde mit seinem Quartett zur Vorband, zum Wegbereiter für den Weltstar aus Israel, der mehr als doppelt so lange spielen durfte. Brüderlichkeit (Achava) musste man sich selbst musikalisch zusammenreimen an einem Ort, der atmosphärisch und akustisch kaum dem Jazz geweiht ist.
All dies abgerechnet, sorgten die Achava-festspiele mit Liszt-hochschule und Jazzmeile Thüringen für eine Offenbarung. Weltumspannende Klänge, die westlichen Einfluss nicht verleugnen, zugleich aber tiefschürfend verschiedene kulturelle Wurzeln freilegen, ergeben hier eben keinen Alles-eine-soße-geschmack. Über Blue Notes verschaffen sich Zenóns wie Cohens Langzeitprojekte den Zugang zur eigenen Seele: Wer bin ich – und wenn ja, wie viele?
Zenón gelingen mit Landsmann Henry Cole (Schlagzeug) sowie kräftigen Klavierfarben von Luis Perdomo aus Venezuela und erdigen Bassläufen von Hans Glawischnig aus Österreich expressionistische, komplexe Meditationen. Cohnens Besetzung ist im Grunde die Gleiche – nur ohne Saxofon und mit dem Bass im Zentrum. „Arvoles“bedeutet: Bäume. Wie diese umschließt Cohen das Instrument. Es wird ein Teil des Körpers, den Noam Davids fast ins Melodiöse führende Schlagzeug in Schwingung versetzt. Das lyrische Piano Elchin Shirinovs, dem mit „Elchinov“ein eigenes Stück gewidmet ist, schwebt darüber. Der gute alte Jazz häutet sich zu moderner Musik .