Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Pandemie bedroht Schweinebauern
Die Schlachtpreise sind nach Tönnies-werksschließung drastisch gesunken. Halter verlieren pro Tier rund 50 Euro
Berlin. Die Schweine werden immer dicker. Mit jedem Tag legen sie etwas mehr zu. Mehr, als ihren Haltern lieb ist. Denn eigentlich haben die Tiere längst ihr Idealgewicht erreicht – und sollten bereits ihren letzten Atemzug ausgehaucht haben. Doch weil der Schlachthof von Tönnies in Rheda-wiedenbrück als Corona-hotspot identifiziert wurde und der Betrieb seit dem 17. Juni stillsteht, finden viele Bauern zum gewünschten Zeitpunkt keinen Schlachter für ihre Tiere. Vielmehr stauen sich auf ihren Höfen die Schweine.
Für die Schweinebauern ist dies eine schwierige Lage – und zwar nicht nur im „Schweinegürtel“von Nordrhein-westfalen und Niedersachsen, sondern auch in anderen Bundesländern. „Der Druck auf die Schweinehalter wird täglich größer“, berichtet Matthias Quaing, Marktreferent der Interessensgemeinschaft der Schweinehalter Deutschlands (ISN), unserer Redaktion.
Allein vergangene Woche hätten „die rund 240.000 Schweinehalter durch sinkende Schlachtpreise und zu spät abgelieferte Schweine rund 20 Millionen Euro verloren“. Viele kämen an ihre Grenze, was Platz und Nerven angehe. „Viele Bauern sind existenziell gefährdet.“
Tönnies ist in Deutschland der mit Abstand größte Schlachtkonzern vor Westfleisch und Vion. Hierzulande wurde 2019 fast jedes dritte der insgesamt 44,1 Millionen Schweine bei Tönnies geschlachtet. Bei dem Standort in Nordrheinwestfalen,
der mindestens bis zum 17. Juli geschlossen bleiben soll, sind es täglich rund 25.000 Tiere. Im Normalbetrieb werden in Rheda zwischen zwölf und 14 Prozent der Schweine am deutschen Markt geschlachtet. Betroffen sind nicht nur konventionelle, sondern auch Biobauern. Denn Tönnies gilt auch als größter Schlachtbetrieb für Bioschweine, sagt Quaing.
Trotz geringerer Kapazitäten droht kein Fleischengpass
Das reißt natürlich eine spürbare Lücke in ein System, das von der Besamung über die Ferkelaufzucht bis zur Schlachtung zeitlich aufeinander abgestimmt ist. Aktuell versuchen Genossenschaften, die als Zwischenhändler fungieren, für die betroffenen Bauern neue Schlachtkapazitäten bei anderen Betrieben zu finden, berichtet Quaing. „Aktuell müssen viele Tiere, die eigentlich geschlachtet werden sollten, bis zu drei Wochen länger bei den Bauern bleiben. Sie müssen weiter gefüttert werden, was die Bauern wiederum Geld kostet.“
Eines aber wollen die Schweinehalter auf alle Fälle verhindern – und bisher ist dies auch gelungen: Das Keulen von Tieren. „Notschlachtungen wird es – im Gegensatz zu den USA – aufgrund anderer Strukturen in der Landwirtschaft in Deutschland nicht geben“, sagt der Isn-marktexperte. „Unser Tierschutzgesetz verbietet die Tötung von Tieren, außer zur Lebensmittelgewinnung.“Zudem sei in Deutschland aktuell nur ein Schlachthof gesperrt, in den USA sei die Lage während der Corona-krise dramatiexperte scher. Dort wurden Tausende schlachtreife Tiere getötet, die Kadaver verbrannt oder vergraben, anstatt vermarktet zu werden.
Finanziell erleben die Bauern aber auch hierzulande derzeit ein Desaster. Obwohl gerade Grillsaison – und damit normalerweise auch Hochsaison für Fleisch – ist, sind die Abnahmepreise für Schweine drastisch gesunken. Denn es gibt mehr Schlachttiere als Kapazitäten in den Schlachthöfen. „Aktuell bekommen die Bauern nur noch 1,49 Euro je Kilo – zu Jahresbeginn waren es noch 2,02 Euro pro Kilo“, berichtet Quaing. Die Halter können jedoch erst ab einem Preis von 1,80
Euro kostendeckend arbeiten. „Pro abgeliefertes Schwein verlieren die Bauern somit rund 50 Euro.“
Ein Schwein wiegt in der Regel zwischen 100 und 120 Kilo, doch nur 80 Prozent des Gewichts werden bezahlt, da nur die Schweinehälften verwertbar sind – also etwa 96 Kilogramm, rechnet der Marktvor. Dafür gebe es pro Schwein dann rund 143 Euro. Trotz reduzierter Schlachtkapazitäten erwartet der Verband dennoch keinen Schweinefleisch-engpass am Markt. „Aktuell werden immer noch 85 bis 90 Prozent aller Scheine geschlachtet – etwa 760.000 pro Woche“, sagt Quaing. Vor Corona waren es 850.000 bis 900.000 pro Woche. „Fleisch ist genug da.“Vielmehr fürchten die Bauern, dass Schweinefleisch für die Verbraucher sogar noch günstiger werden könnte, glaubt der Isn-marktexperte. „Schon jetzt ist im Zuge der Mehrwertsteuersenkung eine neue Preisschlacht der Discounter entfacht.“
Agrarstrukturen in Deutschland dürften sich stark ändern
Die Schweinehalter gehen davon aus, dass die Corona-krise die Agrarstrukturen massiv verändern wird. „Wir fürchten, dass viele Bauern durch die Corona-krise ihre Höfe aufgeben müssen, weil sie nicht mehr wirtschaftlich arbeiten können. Zum einen wegen der abnehmenden Wirtschaftlichkeit, aber auch wegen der schwindenden Akzeptanz in der Gesellschaft.“
Im Eu-binnenmarkt herrsche ein enormer Preisdruck. Gleichzeitig schraube die Regierung mit neuen Verordnungen die Kosten für die Landwirte weiter in die Höhe. Zunächst appellieren die Schweinehalter jedoch an den Landkreis Gütersloh, den Tönnies-betrieb mit neuem Konzept bald wieder zu öffnen, so Quaing: „Sonst werden zahlreiche Höfe kurzfristig aufhören müssen.“