Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Johnson auf verlorenem Posten
Nirgendwo sonst in Europa wütet das Coronavirus wie in Großbritannien. Immer mehr Bürger machen ihren einst gefeierten Premier dafür verantwortlich
London. Neulich, während eines Interviews mit einem Journalisten, warf sich Boris Johnson auf den Boden und machte ein paar Liegestütze. Er wollte damit offenbar nach seiner im April überstandenen Covid-19-erkrankung seine körperliche Fitness unter Beweis stellen. Und zugleich wohl daran erinnern, dass er noch immer für allerhand Späße zu haben ist. Auf viele Briten wirkte die Einlage jedoch erbärmlich. Sie sahen einen Premierminister, der verzweifelt versucht, Stärke zu demonstrieren, während er in Wirklichkeit zunehmend die Kontrolle verliert: Von der Corona-krise völlig überfordert, leistet er sich einen Fehltritt nach dem anderen – und versucht gleichzeitig, von den eigenen Patzern abzulenken. Aber die Briten lassen sich nicht täuschen: Johnsons Umfragewerte sind spürbar gesunken. Waren Mitte April noch 66 Prozent der Bürger zufrieden mit ihrem Premier, sind es nun nur noch 44 Prozent. Eine deutliche Mehrheit findet, die Corona-einschränkungen hätten früher kommen müssen.
Laut der Johns-hopkins-universität zählt Großbritannien bislang mehr als 290.000 bestätigte Coronafälle – mehr als jedes andere Land Europas. Knapp 45.000 Menschen sind an Covid-19 gestorben – auch das ein Rekord in Europa. Immer mehr Briten geben der Regierung die Schuld an dem Debakel, insbesondere ihrem Chef – aus gutem Grund. Von Beginn an zeichnete sich Johnsons Krisenbewältigung durch Schlendrian und Inkompetenz aus. Lange Zeit tat Johnson so, als sei die Krankheit halb so schlimm, zum strikten Lockdown entschied er sich erst spät und nur auf erheblichen Druck von Experten. Als das Land mitten in der Krise steckte, verlief die Beschaffung von Schutzausrüstung und Coronatests schleppend. Als Londons Bürgermeisters Sadiq Khan Mitte April forderte, Gesichtsmasken im öffentlichen Verkehr zur Pflicht zu machen, lehnte die Regierung ab – nur um zwei Monate später genau diese Regelung einzuführen. Und auf eine funktionierende App zur Kontaktverfolgung warten die Briten noch immer.
Als die Opferzahlen unerbittlich stiegen, versuchte Johnson dem Desaster einen positiven Anstrich zu verpassen. Er behauptete, Großbritannien sei es gelungen, eine „Tragödie zu vermeiden“, wie sie über andere Länder hereingebrochen sei.
Zum Umfragesinkflug hat auch der Wirbel rund um Johnsons Chefberater Dominic Cummings beigetragen. Dieser war Ende März, kurz nach Beginn des Lockdowns,von London ins nördliche Durham gereist, um seine Familie zu besuchen – obwohl er Corona-symptome hatte. Das war ein eindeutiger Verstoß gegen die Regeln, die die Regierung selbst eingeführt hatte. Aber Johnson hängt offensichtlich sehr an seinem Berater: Er nahm ihn in Schutz und weigerte sich, ihn zu schassen, obwohl selbst viele seiner eigenen Parteikollegen dies forderten. Selbst Cummings Ausrede, er habe während seines Aufenthalts in Durham die Touristenattraktion Barnard Castle einzig zu dem Zweck besucht, um seine Augen zu testen, war nicht absurd genug, um ihn seinen Job zu kosten.
Regierung sucht Sündenböcke
Solche Kapriolen sorgen bei den Briten für Kopfschütteln und Belustigung. Die Brauerei Brewdog hat eigens ein Bier namens Barnard Castle Eye Test auf den Markt gebracht, mit dem Slogan: „kurzsichtiges Bier für Märchengeschichten“. Selbst die toryfreundliche „Daily Mail“schrieb, es gebe ein Vakuum im Herzen der Regierung, wenn Johnson nicht ohne Cummings auskommen könne. Eine Mehrheit der Briten findet, Cummings hätte gefeuert werden sollen.
Derweil zeigt sich immer deutlicher, dass das Coronavirus insbesondere in den Pflegeheimen schwer wütete. Bislang sind mehr als 20.000 Pflegebedürftige an Covid-19 gestorben, das ist rund ein Drittel aller Todesopfer. Erneut hätte die Regierung mehr tun können, um die Krise frühzeitig einzudämmen: Laut der BBC wusste die englische Gesundheitsbehörde bereits Anfang März, dass sich das Virus in Pflegeheimen rasant ausbreitete; aber sie verpasste es, die Betreiber
„Es ist uns gelungen, eine Tragödie zu vermeiden, wie sie über andere Länder hereingebrochen ist.“Boris Johnson, Ende April
dieser Heime zu informieren.
Klar ist bereits, dass es irgendwann eine öffentliche Untersuchung geben wird, um die Krisenbewältigung der Regierung unter die Lupe zu nehmen. Angesichts dessen hat sich Johnson schon mal darangemacht, von seiner eigenen Verantwortung abzulenken. Vergangenen Montag sagte er, die vielen Todesfälle in Pflegeheimen seien der Tatsache geschuldet, dass deren Betreiber nicht immer das richtige Prozedere befolgt hätten. Regierungsvertreter haben in den vergangenen Wochen noch weitere Sündenböcke ausgemacht: die Wissenschaftler, die Gesundheitsbehörden, oder den Beamtenapparat, dessen leitender Angestellter Mark Sedwill gerade entlassen wurde. Dass diese Manöver funktionieren werden, ist zu bezweifeln.