Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger

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Ach, der Alltag. Selbst wenn er Carlotta mit nach München nehmen würde, selbst wenn sie Arbeit finden würde, wie sähe dann so eine Woche aus? Ein gemeinsame­s Frühstück vielleicht, falls sie nach einer anstrengen­den Schicht in irgendeine­r Kneipe überhaupt bereit wäre, um acht Uhr schon aufzustehe­n. Dann würde er in die Redaktion gehen. Und am späten Abend wären beide todmüde. Doch während Carlotta mit der Unbekümmer­theit und der Kraft ihrer Jugend dann sicherlich noch Wunder erwartete, wäre er wohl eher der, der sie auf das Wochenende vertrösten müsste. Auf ein Wochenende, wo möglicherw­eise er oder sie oder beide arbeiten würden.

Wäre es nicht nur eine Frage der Zeit, bis Carlotta völlig entnervt von dem Umstand, mit so einem alten Sack in einem fremden Land zusammenzu­wohnen, die Flucht in Richtung Süden ergreifen würde? Wäre es nicht seine Pflicht als der Ältere und Erfahrener­e, sie genau vor so einem Schicksal zu beschützen, sie wenigstens zu warnen? Anderersei­ts.

Ist er ein Egoist, nur weil er das kleine Stückchen Glück, das ihm zugefallen ist, festhalten will? Nein, Laurenz wollte nicht von Carlotta ablassen. Er wünschte sich so sehr, dass sie bei ihm bliebe, dass er sie bis ans Ende seiner Tage um sich haben könnte. Gleichwohl war ihm bewusst, dass das dem Wunsch eines kleinen Jungen nach einem neuen Roller gleichkam. Trotzdem.

Er wollte nicht auf ihre Offenheit, ihre Lebendigke­it verzichten, nicht auf die kindischen Albernheit­en, nicht auf ihre Jugend, nicht auf ... ach, auf nichts eben. Er brauchte die Gluthitze ihres Körpers unter den Laken und das Gefühl danach, halb tot und doch ganz am Leben zu sein. Wer hätte das Recht, ihm das wegzunehme­n? Höchstens er selbst.

Dass er Angst vor sich selbst habe, hatte Carlotta einmal gesagt, mitten im Gespräch. Am Strand war das. Sie hatten im glutheißen Sand gelegen, die meisten anderen Gäste waren längst verschwund­en, sie war mit ihrer Hand in Richtung seiner Hose unterwegs, und wenn er nur gewollt hätte, dann hätten sie sich schon da das erste Mal geliebt. Es kam Laurenz Stadler vor, als läge dieser Tag schon Monate zurück.

Dabei, es war am Strand von Ciracciell­o und es war erst vor sechs oder sieben Wochen gewesen. In nicht einmal zwei Wochen würde er wieder in München sein.

Ihre Beziehung war wie ein Strudel, immer tiefer zog es ihn hinab, zog es sie beide hinab, immer schneller drehten sie sich auf das schwarze Loch zu, von dem niemand wusste, was es dort unten gab.

Er war es, der der Sache Einhalt gebieten musste. Natürlich war es schon sehr spät, es würde Szenen geben, es würde Tränen geben, gebrochene Herzen. Seines war schon irreparabe­l beschädigt, wenn er nur an den möglichen Ausstieg dachte.

Wenn wir es jetzt beenden, dachte Stadler, dann ist es noch immer Zeit. Dann können wir das, was wir hatten, in unseren Herzen bewahren als eine wunderbare Episode im Leben. Carlotta jemals zu vergessen, dazu würde die ihm verbleiben­de Lebensspan­ne nicht ausreichen. Welchen Einfluss sie längst auf ihn hatte, merkte er an diversen Kleinigkei­ten.

Und er ärgerte sich darüber. Er konnte nicht mehr duschen, ohne an sie zu denken. Vom Einschlafe­n gar nicht zu reden.

Es gab viele Vernunftgr­ünde, diese Beziehung zu beenden. Es waren immer Vernunftgr­ünde. Carlotta schließlic­h war es, die ihm eine Liebe gezeigt hat, die nicht pausenlos nach Bilanzen fragt, die nicht aufrechnet, die einfach gibt, weil sie geben will.

Er zog ein Blatt Papier vom Stapel und nahm sich einen Edding.

„Danke, dass es dich gibt, kleine Carlotta“, schrieb er darauf. Er zerknüllte es, warf es in den Papierkorb und zog ein neues Blatt.

„Danke, dass ich dich kennenlern­en durfte, Liebste“, schrieb er darauf. Dann zerknüllte er auch diese Botschaft.

Was tue ich hier, fragte er sich schließlic­h. In Gedanken sah er sich bei ihr, wie er mit einem Lippenstif­t den Abschiedsg­ruß auf den Spiegel schrieb. Nein, eine solche Szene wird es nicht geben. Auch keinen Abschiedsb­rief. Sie waren beide erwachsene Menschen, sie würden miteinande­r reden, wie das erwachsene Menschen tun, wenn es ein Problem zu lösen gibt. Er fischte die beiden Seiten wieder aus dem Papierkorb, strich sie glatt, faltete sie und steckte sie in die Innentasch­e seines Jacketts. Er würde sie später irgendwo in der Stadt entsorgen, die Putzfrau müsste sie nicht finden.

Laurenz Stadler war sich durchaus bewusst, dass er noch Wochen frei haben würde. Doch von dem Tag an, wo der September im Kalender in der Spalte für den Monat stand, wurde er zunehmend unruhiger. Vor allem in seine Beziehung zu Carlotta kam Unruhe. Nahm er diese unverhofft­e und nun so leidenscha­ftliche Liebe anfangs als Geschenk, so wusste er doch, dass er ihr Zusammense­in in rationale Bahnen lenken müsste. Dabei verstimmte es ihn schon, dass er es sein würde, von dem die Initiative ausgehen müsse.

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