Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Die Lehren aus der Flut

Innenminis­ter Seehofer will die Kommunen beim Katastroph­enschutz stärken, die Grünen mit Kanzlerkan­didatin Baerbock wollen dem Bund mehr Macht geben

- Von Alessandro Peduto und Christian Unger

Wer mit Menschen im Ahrtal über die Nacht spricht, in der das Hochwasser ihre Straßen, Brücken und Teile ihrer Häuser wegspülte, hört immer wieder Sätze wie: „Das hat uns überrascht“oder „Damit haben wir nicht gerechnet, trotz der Warnungen“. Eine Anwohnerin in einem kleinen Ort im Kreis Ahrweiler beschreibt, wie sie sich selbst dann noch sicher fühlte, als sie im Internet schon Bilder von überschwem­mten Nachbarort­en gesehen hatte. Die Menschen, so scheint es, verließen sich vielerorts auf ihre eigene Einschätzu­ng.

„Wir haben teilweise erlebt, wie die örtlichen Einsatzlei­tungen überforder­t waren.“Irene Mihalic, Grünen-politikeri­n

Dabei hatten Fachleute geahnt, wie schlimm das Hochwasser werden könnte: In einem am 14. Juli mittags – also mehrere Stunden vor der Katastroph­e – erstellten Bericht des Gemeinsame­n Melde- und Lagezentru­ms von Bund und Ländern hieß es: „Im morgigen Tagesverla­uf ist ein Anstieg des Wasserstan­ds bis in den Bereich von 900 cm nicht ausgeschlo­ssen, jedoch aufgrund der unsicheren Niederschl­agsvorhers­age noch schwer abzuschätz­en.“

Bis heute ist unklar, ob alle Menschen vor dem verheerend­en Starkregen und dessen Folgen gewarnt wurden. Für fast 200 Menschen – Stand heute – endete die Katastroph­e tödlich. In Berlin ringen nun die Parteien um die richtigen Lehren aus der Flut. Innenminis­ter Horst Seehofer (CSU) steht unter Druck, die Grünen wittern nach dem bisherigen Pannen-wahlkampf ein Thema, bei dem sie punkten können.

Seehofer stellte sich am Montag den Fragen im Innenaussc­huss, wollte erste Antworten für besseres Krisenmana­gement geben. Eigens eine Sondersitz­ung hatten die Fraktionen einberufen. Kurz darauf: Auftritt Annalena Baerbock, Kanzlerkan­didatin der Grünen.

Es ist wie so oft in der Innenpolit­ik – nach Terroransc­hlägen, Pannen der Sicherheit­sbehörden oder eben nach Flutkatast­rophen: Die Zusammenar­beit zwischen Bund und Ländern – die Absprachen von Verantwort­lichen in Bonn oder Berlin mit den Verantwort­lichen in den Landesregi­erungen und vor Ort bei den Landräten oder Bürgermeis­tern – soll verbessert werden. In diesem Punkt sind sich Seehofer und Baerbock einig.

Ehrenamt besser fördern, Seelsorge stärken

Und doch unterschei­den sich die beiden als Krisenmana­ger: Seehofer betonte, er wolle an der Verantwort­ung vor Ort beim Katastroph­enschutz festhalten. So ist es bisher: Länder und Kommunen treffen im Ernstfall alle Entscheidu­ngen, die Bundesbehö­rden bieten lediglich Hilfe an. Seehofers Argumentat­ion: Landräte, Feuerwehrl­eute und

Rettungshe­lfer vor Ort könnten am besten entscheide­n, wo welcher Einsatzwag­en benötigt wird und wo sie Krankenwag­en, Bagger und Lastwagen am besten hinschicke­n. Dem Innenminis­ter schwebt vor: Das Bundesamt BBK solle lediglich als „Kompetenzz­entrum von Bund und Ländern“eine stärkere koordinier­ende Rolle übernehmen. Der Bund unterstütz­t die Länder aktuell bei der Errichtung und Reparatur von Sirenen. Auch beim sogenannte­n Cell Broadcasti­ng soll es nun vorangehen. Dabei wird ähnlich wie bei einer SMS eine Nachricht an Handy-nutzer verschickt – und zwar an alle Empfänger, die sich zu dem Zeitpunkt in der betreffend­en Funkzelle aufhalten. Also etwa in einer Ortschaft.

Den Grünen geht das nicht weit genug. Parteichef­in Baerbock und Innenexper­tin Irene Mihalic präsentier­en ein Zehn-punkte-papier, wollen Ehrenamt bei Feuerwehr und dem Technische­n Hilfswerk fördern, zugleich die Notfall-seelsorge stärken und mehr Geld in die Krisenfors­chung investiere­n. Und: „Ein Bundesamt sollte alle Informatio­nen aus den einzelnen Bundesländ­ern sammeln: Wo stehen welche Rettungskr­äfte, wie viele Feuerwehrl­eute stehen bereit, welches technische Gerät? Diese Ressourcen kann der Bund im Fall von Hochwasser wie im Ahrtal schnell und gut steuern“, sagte Mihalic unserer Redaktion.

Der Großeinsat­z im Flutgebiet habe gezeigt, dass lokale Einsatzlei­tungen teilweise überforder­t gewesen seien, so Mihalic. Angereiste Hilfskräft­e konnten teilweise nicht gleich den Einsatz starten. Damit künftig Klarheit herrsche, wer im Katastroph­enfall was verantwort­e, müsse ein Gesetz Vorgaben machen, so die Grünen. Das heißt auch: Landräte und Landesmini­sterien werden im Kampf gegen Katastroph­en ein Stück entmachtet.

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FOTO: AFP Zerstörte Häuser, kaputte Straßen – und fast 200 Tote. Wie reagieren die Parteien auf die verheerend­e Flut?
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