Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Die Lehren aus der Flut
Innenminister Seehofer will die Kommunen beim Katastrophenschutz stärken, die Grünen mit Kanzlerkandidatin Baerbock wollen dem Bund mehr Macht geben
Wer mit Menschen im Ahrtal über die Nacht spricht, in der das Hochwasser ihre Straßen, Brücken und Teile ihrer Häuser wegspülte, hört immer wieder Sätze wie: „Das hat uns überrascht“oder „Damit haben wir nicht gerechnet, trotz der Warnungen“. Eine Anwohnerin in einem kleinen Ort im Kreis Ahrweiler beschreibt, wie sie sich selbst dann noch sicher fühlte, als sie im Internet schon Bilder von überschwemmten Nachbarorten gesehen hatte. Die Menschen, so scheint es, verließen sich vielerorts auf ihre eigene Einschätzung.
„Wir haben teilweise erlebt, wie die örtlichen Einsatzleitungen überfordert waren.“Irene Mihalic, Grünen-politikerin
Dabei hatten Fachleute geahnt, wie schlimm das Hochwasser werden könnte: In einem am 14. Juli mittags – also mehrere Stunden vor der Katastrophe – erstellten Bericht des Gemeinsamen Melde- und Lagezentrums von Bund und Ländern hieß es: „Im morgigen Tagesverlauf ist ein Anstieg des Wasserstands bis in den Bereich von 900 cm nicht ausgeschlossen, jedoch aufgrund der unsicheren Niederschlagsvorhersage noch schwer abzuschätzen.“
Bis heute ist unklar, ob alle Menschen vor dem verheerenden Starkregen und dessen Folgen gewarnt wurden. Für fast 200 Menschen – Stand heute – endete die Katastrophe tödlich. In Berlin ringen nun die Parteien um die richtigen Lehren aus der Flut. Innenminister Horst Seehofer (CSU) steht unter Druck, die Grünen wittern nach dem bisherigen Pannen-wahlkampf ein Thema, bei dem sie punkten können.
Seehofer stellte sich am Montag den Fragen im Innenausschuss, wollte erste Antworten für besseres Krisenmanagement geben. Eigens eine Sondersitzung hatten die Fraktionen einberufen. Kurz darauf: Auftritt Annalena Baerbock, Kanzlerkandidatin der Grünen.
Es ist wie so oft in der Innenpolitik – nach Terroranschlägen, Pannen der Sicherheitsbehörden oder eben nach Flutkatastrophen: Die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern – die Absprachen von Verantwortlichen in Bonn oder Berlin mit den Verantwortlichen in den Landesregierungen und vor Ort bei den Landräten oder Bürgermeistern – soll verbessert werden. In diesem Punkt sind sich Seehofer und Baerbock einig.
Ehrenamt besser fördern, Seelsorge stärken
Und doch unterscheiden sich die beiden als Krisenmanager: Seehofer betonte, er wolle an der Verantwortung vor Ort beim Katastrophenschutz festhalten. So ist es bisher: Länder und Kommunen treffen im Ernstfall alle Entscheidungen, die Bundesbehörden bieten lediglich Hilfe an. Seehofers Argumentation: Landräte, Feuerwehrleute und
Rettungshelfer vor Ort könnten am besten entscheiden, wo welcher Einsatzwagen benötigt wird und wo sie Krankenwagen, Bagger und Lastwagen am besten hinschicken. Dem Innenminister schwebt vor: Das Bundesamt BBK solle lediglich als „Kompetenzzentrum von Bund und Ländern“eine stärkere koordinierende Rolle übernehmen. Der Bund unterstützt die Länder aktuell bei der Errichtung und Reparatur von Sirenen. Auch beim sogenannten Cell Broadcasting soll es nun vorangehen. Dabei wird ähnlich wie bei einer SMS eine Nachricht an Handy-nutzer verschickt – und zwar an alle Empfänger, die sich zu dem Zeitpunkt in der betreffenden Funkzelle aufhalten. Also etwa in einer Ortschaft.
Den Grünen geht das nicht weit genug. Parteichefin Baerbock und Innenexpertin Irene Mihalic präsentieren ein Zehn-punkte-papier, wollen Ehrenamt bei Feuerwehr und dem Technischen Hilfswerk fördern, zugleich die Notfall-seelsorge stärken und mehr Geld in die Krisenforschung investieren. Und: „Ein Bundesamt sollte alle Informationen aus den einzelnen Bundesländern sammeln: Wo stehen welche Rettungskräfte, wie viele Feuerwehrleute stehen bereit, welches technische Gerät? Diese Ressourcen kann der Bund im Fall von Hochwasser wie im Ahrtal schnell und gut steuern“, sagte Mihalic unserer Redaktion.
Der Großeinsatz im Flutgebiet habe gezeigt, dass lokale Einsatzleitungen teilweise überfordert gewesen seien, so Mihalic. Angereiste Hilfskräfte konnten teilweise nicht gleich den Einsatz starten. Damit künftig Klarheit herrsche, wer im Katastrophenfall was verantworte, müsse ein Gesetz Vorgaben machen, so die Grünen. Das heißt auch: Landräte und Landesministerien werden im Kampf gegen Katastrophen ein Stück entmachtet.