Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Die haben sie doch nicht mehr alle!
Am Wochenende war ich im Wald, bei der Familie, und obwohl ich es nicht weitersagen darf, weil ja sonst die ganzen Städter mit ihren Plasteeimerchen einfallen: Es gibt sehr viele, sehr große Heidelbeeren resp. Blaubeeren. Es ist, zumindest in dieser Hinsicht, ein spektakulär gutes Jahr.
Für die Politik in Thüringen lässt sich dies eher nicht behaupten. Ohne meine Quellen preiszugeben (Hallo H.!), darf ich an dieser Stelle Volkes gut begründete Meinung über das Erfurter Parlament wiedergeben: Die haben sie doch nicht mehr alle!
Sogar die Beteiligten im Landtag sind bereits zu ganz ähnlichen Einsichten gelangt – wobei sie sich, so sind wir kleinen Menschen nun mal beschaffen, in der Regel selbst davon ausnehmen. Blöd sind halt stets die anderen.
Alles begann mit der Landtagswahl 2019, nach der AFD und Linke die Mehrheit der Sitze besetzte. Ab da durchlebte die parlamentarische Leidensgemeinschaft mehrere Phasen, die erstaunliche Analogien zur Trauerbewältigung aufwies: Leugnen, Wut, Verhandeln, Depression und Akzeptanz.
Zuerst war Orientierungslosigkeit. Niemand wusste mit der Mathematikaufgabe umzugehen, welche die Wählerschaft gestellt hatte und für die es keine erprobte Mehrheitslösung gab. Daraus resultierte der Versuch, mit der Wiederwahl des Linken Bodo Ramelow eine rot-rot-grüne Minderheitsregierung zu erzwingen. Doch der FDP-MANN Thomas Kemmerich trat gegen ihn an, die CDU wählte ihn mit und die AFD heimlich auch. Und so begann die Chaosphase, mit Zorn, Emotionen, Protest, beendet von Verhandlungen für einen Pakt auf Zeit zwischen CDU und Rot-rot-grün.
Die Corona-pandemie muss als Extraphase betrachtet werden, wobei sie die Situation nicht unbedingt beförderte. Schließlich, im September 2021, sollte die Neuwahl des Landtags den Zyklus unterbrechen und die guten alten Thüringer Mehrheitsverhältnisse wiederauferstehen lassen.
Aber das klappte bekanntlich nicht, womit jetzt die Phase der Apathie begonnen hat – immerhin praktischerweise in den Sommerferien, da lässt sich der Frust in den
Alpen wegwandern oder mit Aperol Spritz am Strand behandeln.
Was danach gemäß Lehrbuch folgen müsste, wäre die Akzeptanz der politischen Wirklichkeit: Es gibt keinen neuen Landtag und keinen neuen Ministerpräsidenten. Es gibt nur ziemlich viele Probleme, die gemeinsam zu lösen sind.
Ob es allerdings dazu kommen wird, weiß niemand. Die thüringische Politik ist ein überaus erratisches Wesen. Woran liegt das? Daran, dass alles hier so ländlich, ostmäßig und provinziell ist? Oder daran, dass hier lauter diktatursozialisierte Demokratieamateure unterwegs sind?
Spricht man mit Menschen anderswo in der Republik, bevorzugt in westlichen Gefilden und in der Hauptstadt, werden genau diese Fragen gestellt und sogleich mit Ja beantwortet. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass der einzige linke Ministerpräsident, der extremste aller Afd-extremisten oder der Kurzzeit-regierungschef von der FDP einst von drüben in den putzigsten Freistaat rübermachten.
Nein, die Politiker in Thüringen sind, von Ausnahmen abgesehen, nicht dümmer, schlechter oder radikaler als anderswo. Sie scheiterten nur bislang an den Umständen, die sie nicht wollten. Nach einem Votum der Wähler, das es so noch nicht in der Bundesrepublik gab, haben sie sich ineinander verhakt. Das Ergebnis ist Selbstblockade.
Dies ist der tiefere Grund dafür, warum sie in Erfurt nicht mehr alle haben – und warum sie es nicht schaffen, dieses Land halbwegs unfallfrei durch diese eher komplizierten Zeiten zu steuern.
Nachdem die Chance zur Neuwahl verpasst ist, gibt es jetzt im Landtag ziemlich genau zwei Möglichkeiten: Irgendwie so weiterwurschteln – oder etwas Außergewöhnliches versuchen, das zur Außergewöhnlichkeit der Thüringer Situation passt.
Und jetzt etwas Eigenwerbung: Wer wissen will, wie Thomas Kemmerich Ministerpräsident wurde, wem Bodo Ramelow einen Schutzengel schickte und warum Angela Merkel Thüringen mitregierte, der kann dies in einem Buch nachlesen, das kommende Woche erscheint. Martin Debes: Demokratie unter Schock. Klartext-verlag Essen, 248 Seiten, 18,95 Euro