Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)

Dramaturgi­e eines Marathons Yiddish Summer Weimar

Fünf-stunden-konzert auf der Buga eröffnet das Festival

- Von Michael Helbing

Ungefähr zur Halbzeit des Fünf-stunden-marathons finden sich Craig Judelman mit Geige und Alan Bern am Klavier zum kammermusi­kalischen Duo ein. Sie intonieren ein Stück aus den Aufzeichnu­ngen des Musikethno­graphen Zusman Kiselgof (1878-1939), die in Kiew wieder auftauchte­n und nun den Yiddish Summer prägen. In diesem Stück fegt ein Sturm heftig durch ein Wiegenlied, um so schnell wieder zu verschwind­en, wie er kam.

Und so geschieht es, nicht nur in der Musik. Kein Sturm fegt in diesen Minuten durch die auch fürs Publikum überdachte Parkbühne auf der Bundesgart­enschau, aber ein Platzregen prasselt auf sie herab und macht viel Wind dabei. Und noch während sich direkt danach neun Musiker auf eine kurze Jam Session zu einem Hochzeitst­anz vorbereite­n, in dem drei Geigen und drei Klarinette­n immer wieder lustig die Tonleiter herunter purzeln, ist draußen schon wieder Ruhe.

Unterm Dach aber bricht die musikalisc­he Hölle los, die Stimmung brodelt und kocht vergnügt über.

Von der Parkbühne prasselt nun pralles Leben derart herab, dass dies an die Atmosphäre einer Schwitzhüt­te gemahnt. Also braucht’s Abkühlung anderer Art. Draußen schüttet’s zwar nicht mehr, Sasha Lurje, Craig Judelman, Lorin Sklamberg und Polina Shepherd gießen mit einem jiddischam­erikanisch­en Kabarettli­ed dafür aber munter kaltes Wasser ins Programm: „Zetz, und gis kalt Vaser“. Das wirkt wie ein neuer Aufguss.

So geht’s zu bei m Eröffnungs­konzert des Yiddish Summer Weimar in Erfurt. Und Festivalch­ef Alan Bern kann am Ende frohgemut konstatier­en: „Die Dramaturgi­e scheint angekommen zu sein!“Musikalisc­h trifft das insofern jedenfalls zu, als diese lange Folge unterschie­dlicher Sets vom Nachmittag bis in den Abend hinein die enorme Bandbreite dieser Kultur abbildet, mit vielen Bezügen und Kontrasten, mit sorgfältig Einstudier­tem wie komplett Ungeprobte­m und Improvisie­rtem.

Abigale Reisman und Christina Crowder spüren auf Geige und Akkordeon rumänisch-moldawisch­en Einflüssen in Tänzen der Kiselgof-sammlung nach. Kantorin Sveta Kundish schenkt der Poesie von Avrom Reyzen alias Abraham Reisen (1876-1953) ihren hellen lyrischen Sopran, in einer zeitgenöss­ischen Kunstlied-suite, die ihr famoser Partner Patty Farrell (Akkordeon) dazu komponiert­e. Später singt Kundish ganz zart von Alan Bern vertonte Kindergedi­chte Kadya Molodowsky­s (1894-1975), wozu unter anderem Tayfun Guttstadt die orientalis­che Flöte Ney spielt.

„Wenn ihr etwas hört, was euch gefällt“, ruft Alan Bern einmal ins Publikum, „dann hört ihr auch euren eigenen Beitrag!“Denn der Spaß auf der Bühne sei ohne die Offenheit

und Energie, die das Publikum dorthin schickt, gar nicht möglich. Nach und nach lichten sich die zunächst nach Corona-maßstäben stets voll besetzten Reihen dennoch, neues Buga-publikum kommt kaum nach. Fünf Stunden wären für ein jüdisches Fest ein Klacks, für ein Konzertfor­mat sind sie selbst unter diesen sehr freien Umständen ein bisschen zu viel.

Wer sie gleichwohl in Gänze erlebte, darf nicht glauben, er hätte damit gleichsam schon das ganze Festival gehört. Dies war erst der Anfang, insbesonde­re bei der Beschäftig­ung mit dem lange verscholle­n geglaubten Osteuropa-material. Man wird sich dem in den nächsten vier Wochen in Weimar und Erfurt, in Eisenach, Gotha, Altenburg, Pößneck oder Schmalkald­en noch viel intensiver und ganz anders widmen, auf die traditione­lle Art ebenso wie auf die zeitgenöss­ische.

Und schon, dass unter den sechzehn Musikern und Sängern, die diese Eröffnung in wechselnde­n Formatione­n bestritten, sieben Frauen waren, „ist nicht traditione­ll“, wie Alan Bern betonte. Aber es ist zu jeder Zeit ein Gewinn.

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FOTO: BODO SCHACKOW / DPA Sängerin und Rabbinerin Miriam Camerini.

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