Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Dramaturgie eines Marathons Yiddish Summer Weimar
Fünf-stunden-konzert auf der Buga eröffnet das Festival
Ungefähr zur Halbzeit des Fünf-stunden-marathons finden sich Craig Judelman mit Geige und Alan Bern am Klavier zum kammermusikalischen Duo ein. Sie intonieren ein Stück aus den Aufzeichnungen des Musikethnographen Zusman Kiselgof (1878-1939), die in Kiew wieder auftauchten und nun den Yiddish Summer prägen. In diesem Stück fegt ein Sturm heftig durch ein Wiegenlied, um so schnell wieder zu verschwinden, wie er kam.
Und so geschieht es, nicht nur in der Musik. Kein Sturm fegt in diesen Minuten durch die auch fürs Publikum überdachte Parkbühne auf der Bundesgartenschau, aber ein Platzregen prasselt auf sie herab und macht viel Wind dabei. Und noch während sich direkt danach neun Musiker auf eine kurze Jam Session zu einem Hochzeitstanz vorbereiten, in dem drei Geigen und drei Klarinetten immer wieder lustig die Tonleiter herunter purzeln, ist draußen schon wieder Ruhe.
Unterm Dach aber bricht die musikalische Hölle los, die Stimmung brodelt und kocht vergnügt über.
Von der Parkbühne prasselt nun pralles Leben derart herab, dass dies an die Atmosphäre einer Schwitzhütte gemahnt. Also braucht’s Abkühlung anderer Art. Draußen schüttet’s zwar nicht mehr, Sasha Lurje, Craig Judelman, Lorin Sklamberg und Polina Shepherd gießen mit einem jiddischamerikanischen Kabarettlied dafür aber munter kaltes Wasser ins Programm: „Zetz, und gis kalt Vaser“. Das wirkt wie ein neuer Aufguss.
So geht’s zu bei m Eröffnungskonzert des Yiddish Summer Weimar in Erfurt. Und Festivalchef Alan Bern kann am Ende frohgemut konstatieren: „Die Dramaturgie scheint angekommen zu sein!“Musikalisch trifft das insofern jedenfalls zu, als diese lange Folge unterschiedlicher Sets vom Nachmittag bis in den Abend hinein die enorme Bandbreite dieser Kultur abbildet, mit vielen Bezügen und Kontrasten, mit sorgfältig Einstudiertem wie komplett Ungeprobtem und Improvisiertem.
Abigale Reisman und Christina Crowder spüren auf Geige und Akkordeon rumänisch-moldawischen Einflüssen in Tänzen der Kiselgof-sammlung nach. Kantorin Sveta Kundish schenkt der Poesie von Avrom Reyzen alias Abraham Reisen (1876-1953) ihren hellen lyrischen Sopran, in einer zeitgenössischen Kunstlied-suite, die ihr famoser Partner Patty Farrell (Akkordeon) dazu komponierte. Später singt Kundish ganz zart von Alan Bern vertonte Kindergedichte Kadya Molodowskys (1894-1975), wozu unter anderem Tayfun Guttstadt die orientalische Flöte Ney spielt.
„Wenn ihr etwas hört, was euch gefällt“, ruft Alan Bern einmal ins Publikum, „dann hört ihr auch euren eigenen Beitrag!“Denn der Spaß auf der Bühne sei ohne die Offenheit
und Energie, die das Publikum dorthin schickt, gar nicht möglich. Nach und nach lichten sich die zunächst nach Corona-maßstäben stets voll besetzten Reihen dennoch, neues Buga-publikum kommt kaum nach. Fünf Stunden wären für ein jüdisches Fest ein Klacks, für ein Konzertformat sind sie selbst unter diesen sehr freien Umständen ein bisschen zu viel.
Wer sie gleichwohl in Gänze erlebte, darf nicht glauben, er hätte damit gleichsam schon das ganze Festival gehört. Dies war erst der Anfang, insbesondere bei der Beschäftigung mit dem lange verschollen geglaubten Osteuropa-material. Man wird sich dem in den nächsten vier Wochen in Weimar und Erfurt, in Eisenach, Gotha, Altenburg, Pößneck oder Schmalkalden noch viel intensiver und ganz anders widmen, auf die traditionelle Art ebenso wie auf die zeitgenössische.
Und schon, dass unter den sechzehn Musikern und Sängern, die diese Eröffnung in wechselnden Formationen bestritten, sieben Frauen waren, „ist nicht traditionell“, wie Alan Bern betonte. Aber es ist zu jeder Zeit ein Gewinn.