Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Wahn, Wahn, überall Wahn
Der mehrfach verschobene Fliegende Holländer ist jetzt am Meininger Staatstheater angekommen
Kann es sein, dass jemand so oft ins Kino geht, dass er den Helden seines Lieblingsfilms am Ende tatsächlich in der Kinobar zu sehen meint? Im wirklichen Leben ist das selbst in Zeiten von alternativen Fakten immer noch eher unwahrscheinlich. Auf der Meininger Opernbühne kann man es jetzt erleben. In der Ulmer Inszenierung des Fliegenden Holländers, die Kay Metzger, nach mehrfacher coronabedingter Verschiebung für Meiningen neu einstudiert hat.
Die junge Frau, die auf ihren Leinwandhelden fixiert ist, heißt Senta. Ihre fixe Idee ist genau der sagenhafte Seefahrer, für den nur eine bis in den Tod treue Frau Erlösung bringen würde. Wenn der aber zum Filmhelden wird, dem Senta verfallen ist, braucht man kein Segel auf der Bühne und das Meeresrauschen kann sich auf den Graben beschränken.
Für die Stürme und Wellenwogen sorgen GMD Philippe Bach und die mit Wagner ja gut vertraute Hofkapelle mit Hingabe. Bach fügt dem neben zugespitzter Dramatik allerdings ein Nachschmecken des träumerisch Romantischen bei den Tempi hinzu. Für das fabelhafte Protagonistenensemble hat Ausstatterin Petra Mollérus eine opulente, altmodische Kinobar auf die Bühne gebaut. Rechts der Tresen; hinten wird der aktuelle Film plakatiert, daneben geht es in den Kinosaal. Schon während der Ouvertüre war Senta mehrfach im „Fluch der Meere“, bis sie plötzlich mit wachsender Verzückung ihren Traumhelden leibhaftig dabei zusieht und -hört, wie der sein Schicksal beklagt und sich nach der einen Frau sehnt, für die sich schon immer hält. In Sentas Welt vervielfacht sich dann das Personal hinter der Bar (Steuermann: Rafael Helbig-kostka und Frau Mary: Tamta Tarielashvili) zu den originell verfremdeten Chorauftritten.
Wie Daland (Tomasz Wija) sie an den Holländer verhökert, hat Senta offenbar traumatisiert. Erik (Michael Siemon) ist für sie keine Perspektive. Obwohl sie sich mit dem Holländer für Momente in eine Familienidylle
träumt, die sie mit Erik haben könnte. Sie steigert sich so in die Geschichte, dass sie sich erschießen will, wacht aber dann doch plötzlich allein aus ihrer Traumwelt auf. Entkommt ihr allerdings doch nicht ganz. Denn wenn sich der Vorhang schließt, sieht man sie als alte Frau immer noch aus „ihrem“Film kommen.
Das beste an dem rundrum gelungenen Abend: Lena Kutzner als prachtvolle Senta und Shin Taniguchi als so kraftvoll wie edel tönender Fliegender Holländer! Wagner und Meiningen – das hat schon immer gut funktioniert.
Weitere Vorstellungen: 23.10., 1.11., 6.11., 29.12. und 10.3.2022