Thüringer Allgemeine (Mühlhausen)
Prinz vor Gericht – sogar die Löffel sind verboten
Reichsbürger-gruppe des Rädelsführers wollte die staatliche Ordnung gewaltsam beseitigen
Frankfurt. Die ernste Fassade des Prinzen soll im Laufe seines Prozessauftaktes doch noch fallen. Zwei Justizvollzugsbeamte führen den mutmaßlichen Reichsbürger, kräftig an den Armen packend, in den Gerichtssaal. Flankiert von seinen drei Anwälten nimmt er Platz und bleibt regungslos. Keines Blickes würdigt er die Zuschauer und Journalisten, deren 120 Augenpaare vor der zentimeterdicken Scheibe einen Blick auf die Gruppe um den mutmaßlichen Rädelsführer einer terroristischen Vereinigung erhaschen wollen. Doch dann: der Hauch einer Emotion im Gesicht von Heinrich XIII. Prinz Reuß. Denn schräg hinter ihm wird eine junge Frau neben ihrem russischen Dolmetscher platziert. Es ist Vitalia B., die mutmaßliche Lebensgefährtin des angeklagten Rädelsführers. Er dreht sich um. Sucht den Blickkontakt. Starrt sie an.
Es ist schwer, diesen Mann zu entschlüsseln, der mit seinen Anhängern im Dezember 2022 bundesweit für Aufsehen sorgte. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm vor, als Rädelsführer einer Vereinigung vorgestanden zu haben, die den gewaltsamen Umsturz der Bundesrepublik herbeiführen wollte. Vor dem Oberlandesgericht in Frankfurt wird ihm und acht weiteren Mitgliedern des sogenannten Rates der Prozess gemacht. Es handelt sich um die bekanntesten Gesichter, die bei einer Razzia im Dezember 2022 festgenommen wurden.
Über zwei Stunden am Stück liest Tobias Engelstetter von der Bundesanwaltschaft die Anklageschrift vor. So sollen die mutmaßlichen Reichsbürger dem verschwörungstheoretischen Narrativ der Q-anon-bewegung angehangen haben. Sie dachten beispielsweise, dass eine „Elite“Kinder im Untergrund gefangen halte, um deren Blut zu trinken.
Zentraler Vorwurf der Anklage: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Hochverrat. Die Gruppe wollte mit der Erstürmung des Reichstagsgebäudes einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland herbeiführen. Allen Beteiligten sei bewusst gewesen, dass das Vorhaben auch die Tötung von Menschen mit einschießt, liest Engelstetter aus der 617 Seiten langen Anklageschrift vor. 382 Schusswaffen habe man bei Unterstützern der Gruppe gefunden.
Rund 40 Polizisten scannen jeden Besucher des Prozessauftaktes
Dass es sich dabei nicht um eine harmlose Idee wirrer Senioren handelt, zeigen die Sicherheitsvorkehrungen, die das Oberlandesgericht Frankfurt für den Prozess aufgefahren hat. Meterhoher Stacheldraht umringt das Gebäude in einem abgelegenen Industriegebiet. Rund 40 Polizisten scannen jeden Journalisten und Besucher des Prozessauftaktes. Nur auf Handfesseln für die 9 der insgesamt 27 Angeklagten verzichteten die Behörden.
Diese scheinen den Prozess ganz unterschiedlich zu interpretieren. Da ist Rüdiger von Pescatore: ein hagerer älterer Herr mit streng zurückgekämmten Haaren, der süffisant über die Köpfe der Anklagebank lächelt. Er scheint sich seiner Sache sicher, lehnt sich selbstgefällig über die Stuhllehne. Dabei wird ihm vorgeworfen, neben Reuß als Rädelsführer agiert zu haben.
Die beiden Ex-militärs Maximilian Eder und Peter Wörner sind in den Farben ihrer ehemaligen Dienstkleidung in Grün gekleidet. Die angeklagte Johanna F. J. bricht in den Sitzungspausen immer wieder in Gelächter aus. Ob es schallend war, können die Besucher wegen der dicken Scheibe nicht hören – wenn die Mikros ausgeschaltet sind. Und Reuß? Abgesehen von seinen vereinzelten Kontaktaufnahmen zu Vitalia B. verfällt er während des Prozessauftaktes in einen Trott. Regungslos sitzt er da, spricht mit seinen Anwälten und blättert mit den Fingern durch die Akten. Als er seine Anschrift bestätigen muss, spricht er mit gedämpft-heiserer Stimme in das Saalmikrofon.
„Er nimmt das schon ernst“, sagt einer von Reuß’ Anwälten, Hans Sieg, unserer Redaktion. Den Angeklagten drohen bis zu 15 Jahre Haft. Und der Vorwurf der Rädelsführerschaft gegen den 72-jährigen Reuß wiegt besonders schwer.
Im Gegensatz zu ihrem Mandanten scheinen allerdings die anwesenden
Anwälte den Prozess ad absurdum führen zu wollen. Denn ehe die Anklageschrift vorgelesen werden konnte, torpedierten die Verteidiger den Vorsitzenden Richter mit Anträgen. „Herr Vorsitzender, auch ich hätte einige Anträge, die auch mit einem Ablehnungsgesuch verbunden sind“, sagte etwa Reuß’ Anwalt Roman von Alvensleben zu Prozessbeginn. Die Anträge richten sich etwa gegen den Vorsitzenden Richter. Auch eine fehlende Internetverbindung oder zu kalte Luft aus der Klimaanlage werden beanstandet. Kurz vor der Mittagspause stellen die Anwälte fest, dass ihren Mandanten keine Löffel zur Verfügung gestellt wurden.
Es scheint die Strategie der Verteidiger zu sein, den Prozess in die Länge ziehen zu wollen. Fast alle Ablehnungsgesuche schmettert der Vorsitzende
Richter Jürgen Bonk zunächst ab. Auch die Forderung mehrerer Anwälte, den Prozess aufzuzeichnen, wurde nach einer Beratung der Richter abgelehnt. Unter anderem die Anwälte von Reuß bemängeln, dass der Prozess gegen die insgesamt 27 Angeklagten an mehreren Orten stattfinde. Ohne eine Aufzeichnung könne nicht ausreichend dokumentiert werden, was andernorts passiere, so die Verteidiger. Die weiteren 18 Angeklagten werden vor Gerichten in Stuttgart und München angeklagt. Das Vorgehen der Anwälte zeigt: Der Prozess entwickelt sich nicht nur aufgrund des Aktenpensums zu einem der größten Terrorprozesse der Nachkriegszeit. Auch zeitlich wird er sich in die Länge ziehen. Ein Richterspruch wird frühestens Anfang des kommenden Jahres erwartet.