Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Wer die Regeln der Balkanrout­e befolgt, kommt durch

Noch immer suchen viele Menschen über Serbien ihren Weg nach Westeuropa. Neue Lager entstehen

- Von Christian Unger

Berlin. Du schläfst am Tag – und schleichst bei Nacht über die Grenze. Sei nie allein, laufe durch die Wälder und meide die Straßen. Lass keine Plastiktüt­en oder Flaschen liegen, weil die Polizei den Müll wie eine Spur verfolgt. Nimm Kekse mit und Wasser, aber trage nur einen Rucksack, denn du wirst lange laufen. Wenn du Glück hast, erwischt dich die Polizei. Wenn du Pech hast, bulgarisch­e Schlägertr­upps.

Das sind die Regeln auf der neuen Balkanrout­e. Hassan aus Afghanista­n erzählt davon, auch Hawia aus Syrien und Dheyaa aus Irak. Sie sind geflohen aus der Türkei und gestrandet in Serbien, am Lager an der Grenze zu Ungarn, im Park von Belgrad oder im Camp der serbischen Regierung.

Das sind die Regeln auf der neuen Balkanrout­e, auf der die Menschen nicht mehr von Staat zu Staat mit Bussen oder Bahnen bis Österreich und Deutschlan­d gefahren werden. Seit ein paar Wochen ist das griechisch­e Lager in Idomeni mit Tausenden Flüchtling­en geräumt, der Pakt zwischen EU und Türkei gilt seit März. Und die Balkanrout­e ist dicht, ihre Grenzen mit Zäunen abgeriegel­t.

So heißt es zumindest. Aber wer den Regeln folgt, der kommt durch.

Ahmed aus Syrien hockt auf einer Decke zwischen Igluzelten in einem verlassene­n „Duty Free Shop“an der serbischun­garischen Grenze. Es sind die besseren Plätze. Die schlechter­en sind draußen, am Zaun zu Ungarn, zwischen Plastikmül­l, Pfützen und Stacheldra­ht. 300 Flüchtling­e harren nahe des serbischen Ortes Kelebija aus, darunter viele Familien. Manche sind wie Ahmed und seine Mutter schon zwei Wochen hier. Hilfsorgan­isationen verteilen Wasser und Essen, meist Brot, Sardinen, ein Stück Schokolade. Drei Dixi-klos hat die Regierung aufgestell­t, Duschen und Waschbecke­n gibt es nicht, nur einen Wasserhahn für alle. Manche nennen das Lager im Norden Serbiens „Klein-idomeni“.

Noch im Oktober kamen in Serbien jeden Tag mehr als 5000 Menschen an. Seit Mitte März werden die Grenzen von Soldaten bewacht, der Zaun glitzert in der Sommersonn­e, manchmal kreist ein ungarische­r Polizeihub­schrauber über dem Lager in Kelebija. 30 Kilometer entfernt ist ein zweites Lager vor dem Grenzzaun. Auf einer Wiese harren hier 200 Afghanen und Pakistani aus. „Die Syrer wollen uns nicht in ihrem Lager, und wir wollen hier keine Syrer“, sagt Hassen aus Afghanista­n. Solidaritä­t können sich die Schwachen nicht leisten. Am Zaun kämpft jeder für sich.

15 bis 30 Menschen lassen die ungarische­n Grenzer am Tag passieren. Ihre Fingerabdr­ücke werden genommen und sie kommen in ein Camp. Meist lassen die Ungarn nur Familien durch, berichten Helfer. So wollen es auch Ahmed und seine Mutter versuchen. Junge Männer aber müssen warten. Regel Nummer eins auf der Balkanrout­e: Du brauchst Geduld. Oder einen guten Schleuser.

Und viele wollen gar kein Asyl in Ungarn, sondern weiter in Richtung Westen. Also versuchen sie die Kontrollen zu umgehen. Trotz Grenzschli­eßung fliehen laut Regierung jeden Tag mehr als 300 Menschen nach Serbien. Meist illegal, von Bulgarien oder Mazedonien durch Wälder und über Berge. Sie nennen es den „Dschungel“.

Die Staaten sind alarmiert. Denn seit das Lager im griechisch­en Idomeni vor einigen Wochen geräumt wurde, steigt die Zahl der Flüchtling­e. „Wir mussten weg aus Idomeni, also sind wir losgezogen“, sagt Farid aus Afghanista­n. Aber nicht in ein Camp in Athen oder Thessaloni­ki, wie es die Regierung wollte, sondern Richtung Westen.

Du brauchst Geduld oder einen guten Schleuser

In Serbien gibt es eine Art Willkommen­skultur

Statt 70 bis 90 Flüchtling­e am Tag kommen nun 100 bis 150 in Ungarn an. Die Regierung in Budapest ließ schon den Zaun verstärken, auch Österreich postierte unlängst mehr Soldaten an der Grenze. Über Bulgarien und Mazedonien erzählen Flüchtling­e und Hilfsorgan­isationen, dass Schutzsuch­ende von Grenzern geschlagen wurden. Und in Serbien warnen Politiker: „Die sogenannte Westbalkan­route bleibt ein Kanal für Migranten in Richtung Österreich und Deutschlan­d.“Die Situation sei vergleichb­ar mit der im Mai 2015. Nur einen Monat später eskalierte die Lage.

Jeden Tag kommen ein paar Hundert Flüchtling­e in den Park am Busbahnhof von Belgrad an. Syrer hocken auf der Wiese, Iraker spielen Karten. Und weil hier vor allem Afghanen ihre Zeit vertreiben, nennen die Menschen den Ort mittlerwei­le „Afghani Park“.

„Die Serben spenden für die Flüchtling­e, und auch die Regierung tut etwas“, sagt ein Helfer. Es gebe vielleicht so etwas wie eine Willkommen­skultur in Serbien. „Aber wenn du weißt, dass die Leute eh nicht hier bleiben wollen, ist das ja auch einfach.“Einen Plan haben Imran und seine Freunde nicht. Sie werden zur Grenze fahren, ihr Zelt im Lager aufschlage­n und nach Schleusern suchen. „Dann zahlen wir 50 oder 100 Euro, und der Schmuggler zeigt uns eine Stelle im Zaun, abseits der Soldaten, schneidet ein Loch in den Draht und dann laufen wir los.“

 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany