Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Ein Drama ereignet sich im Körper des Schauspielers
Thomas Thieme spricht Brechts „Leben des Galilei“in Weimar, begleitet von Musikern und Kinderchor
Weimar. Immer wieder wiederholt er an einer Stelle diese Zeile aus einer Ballade des Bänkelsängers: „Wer wär nicht auch mal gern sein eigner Herr und Meister?“Thomas Thieme stopft sie sich gleichsam ins Hirn.
Dabei ist dieser Schauspieler auf einer Bühne längst sein eigner Herr. Wir könnten uns ihn sehr gut vorstellen im Zentrum des großen Ensemblestücks „Leben des Galilei“von Brecht. Er selbst kann das wohl nicht mehr.
Also erfand er das Genre der konzertanten Aufführung von Dramen, die keinesfalls eine musikalische Lesung sind. Sie sind ein Konzert der Sprache: mit Stimme und Körper. Dass Musik auch vorkommt, ist gut und wichtig, aber nicht der Kern.
Thieme verkörpert hier keine Rolle mehr, sondern ein ganzes Drama, das er sich aneignet, damit es sich in ihm ereignet mit allen Reden und Gegenreden.
Das sei „ein bisschen dem Größenwahn geschuldet“, kokettiert er in seinem Prolog als lebendes Programmheft. Dabei lebt und spielt Thieme auf der Bühne eigentlich die Gefahr, dem Wahn zu verfallen, wenn man das Allernatürlichste zulässt: Widerspruch in sich.
Derart spricht er das „Leben des Galilei“, das, wie er dem Publikum in einer Mischung aus Selbstdistanz und Koketterie mitteilt, „wir heute versuchen, hier aufzuführen.“
Dies geschieht in einer 75-Minuten-fassung von Julia von Sell, die Thieme vor 15 Jahren zusammen mit Karsten Wiegand als Faust in Weimar inszenierte und die auch hier Regie führte: für zwei Auftritte zunächst beim Brechtfestival in Augsburg,2015 und 2016, nun am Dnt-spielort Redoute.
Dort steht Thieme vor dem glänzenden Kinderchor Schola Cantorum Weimar. Um die 60 Kinder singen Verse aus Hanns Eislers Bühnenmusik zu „Galilei“, geleitet und begleitet von Kapellmeister Martin Hoff am Klavier sowie Flötistin Mareike Friedel und Klarinettistin Junko Kada. Sie machen aber auch als Sprechchor eine sehr gute Figur.
Brecht schrieb dieses Drama unterm Eindruck der Atombombe als Kritik an der Wissenschaft, die sich der Macht beugt. Er verdammt in Galilei, der mit seinem Fernrohr das kopernikanische Weltbild beweisen kann, den Drang, „Wissen um des Wissens willen aufzuhäufen“. Er lässt ihn sich am Ende als Verräter an der Profession erkennen.
Doch Galilei übersteht das, als historische und dramatische Figur, unbeschadet. Dieser lebt, auch bei Thieme, für den und mit dem Zweifel. Das macht ihn zum sympathischen Menschen.
Bärbeißig und zornig, betroffen und verwundert knarzt Thiemes Galilei mit fast zerberstendem Brustkorb und sich überschlagener Stimme gegen die, die nicht sehen, die nicht zweifeln, die nicht denken wollen: die katholische Kirche.
„Wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel“, spricht sein Galilei. Zweifel aber nistet sich gleichsam auch ein in ihm mit all den Haltungen anderer Figuren, die der Schauspieler spricht, bis sie eins werden: Andrea Sarti, Linsenschleifer Federzoni, Kardinal Barberini (später Papst), Inquisitor, . . .
Thieme verstellt nicht die Stimme, maskiert sich nicht, er verändert die Haltung und den Ton so, dass niemand denunziert wird; ein jeder kommt zu seinem Recht – und hat auch recht auf seine Weise.
Und der kleine Mönch, der an seine Eltern denkt, denen die Abschaffung des Himmels jeden Trost, jede Zuversicht, jeden Lebenssinn zu nehmen droht, die der Zweifel in die Verzweiflung treiben würde. Zart und brüchig haucht Thieme diesen unmenschlichen Verlust des Glaubens: „Es liegt also kein Auge auf uns? Wir müssen nach uns selber sehen, ungelehrt, alt und verbraucht, wie wir sind?“
Bei all dem begleitet und unterstützt ihn Arthur Thieme, sein Sohn, improvisierend an Kontrabass und Mundharmonika, befördert das Wanken und Zittern und Wippen des Schauspielers. Der stemmt sich buchstäblich gegen den Bühnenboden, als stünde der für alle Widerstände, die man doch überwinden oder denen man letztlich nachgeben muss.
„Mensch, reg dich auf!“, ruft Galilei einmal seinem Freund Sagredo zu. „Was du siehst, hat noch keiner gesehen.“Das gilt auch für diese Weise, ein moralisches Stück Brecht zu spielen.
Alle Figuren werden beinahe eins
Als stünde der Boden für alle Widerstände
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Weitere Aufführung am Sonntag um Uhr in der Redoute.