Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Ein Drama ereignet sich im Körper des Schauspiel­ers

Thomas Thieme spricht Brechts „Leben des Galilei“in Weimar, begleitet von Musikern und Kinderchor

- Von Michael Helbing

Weimar. Immer wieder wiederholt er an einer Stelle diese Zeile aus einer Ballade des Bänkelsäng­ers: „Wer wär nicht auch mal gern sein eigner Herr und Meister?“Thomas Thieme stopft sie sich gleichsam ins Hirn.

Dabei ist dieser Schauspiel­er auf einer Bühne längst sein eigner Herr. Wir könnten uns ihn sehr gut vorstellen im Zentrum des großen Ensemblest­ücks „Leben des Galilei“von Brecht. Er selbst kann das wohl nicht mehr.

Also erfand er das Genre der konzertant­en Aufführung von Dramen, die keinesfall­s eine musikalisc­he Lesung sind. Sie sind ein Konzert der Sprache: mit Stimme und Körper. Dass Musik auch vorkommt, ist gut und wichtig, aber nicht der Kern.

Thieme verkörpert hier keine Rolle mehr, sondern ein ganzes Drama, das er sich aneignet, damit es sich in ihm ereignet mit allen Reden und Gegenreden.

Das sei „ein bisschen dem Größenwahn geschuldet“, kokettiert er in seinem Prolog als lebendes Programmhe­ft. Dabei lebt und spielt Thieme auf der Bühne eigentlich die Gefahr, dem Wahn zu verfallen, wenn man das Allernatür­lichste zulässt: Widerspruc­h in sich.

Derart spricht er das „Leben des Galilei“, das, wie er dem Publikum in einer Mischung aus Selbstdist­anz und Koketterie mitteilt, „wir heute versuchen, hier aufzuführe­n.“

Dies geschieht in einer 75-Minuten-fassung von Julia von Sell, die Thieme vor 15 Jahren zusammen mit Karsten Wiegand als Faust in Weimar inszeniert­e und die auch hier Regie führte: für zwei Auftritte zunächst beim Brechtfest­ival in Augsburg,2015 und 2016, nun am Dnt-spielort Redoute.

Dort steht Thieme vor dem glänzenden Kinderchor Schola Cantorum Weimar. Um die 60 Kinder singen Verse aus Hanns Eislers Bühnenmusi­k zu „Galilei“, geleitet und begleitet von Kapellmeis­ter Martin Hoff am Klavier sowie Flötistin Mareike Friedel und Klarinetti­stin Junko Kada. Sie machen aber auch als Sprechchor eine sehr gute Figur.

Brecht schrieb dieses Drama unterm Eindruck der Atombombe als Kritik an der Wissenscha­ft, die sich der Macht beugt. Er verdammt in Galilei, der mit seinem Fernrohr das kopernikan­ische Weltbild beweisen kann, den Drang, „Wissen um des Wissens willen aufzuhäufe­n“. Er lässt ihn sich am Ende als Verräter an der Profession erkennen.

Doch Galilei übersteht das, als historisch­e und dramatisch­e Figur, unbeschade­t. Dieser lebt, auch bei Thieme, für den und mit dem Zweifel. Das macht ihn zum sympathisc­hen Menschen.

Bärbeißig und zornig, betroffen und verwundert knarzt Thiemes Galilei mit fast zerbersten­dem Brustkorb und sich überschlag­ener Stimme gegen die, die nicht sehen, die nicht zweifeln, die nicht denken wollen: die katholisch­e Kirche.

„Wo der Glaube tausend Jahre gesessen hat, eben da sitzt jetzt der Zweifel“, spricht sein Galilei. Zweifel aber nistet sich gleichsam auch ein in ihm mit all den Haltungen anderer Figuren, die der Schauspiel­er spricht, bis sie eins werden: Andrea Sarti, Linsenschl­eifer Federzoni, Kardinal Barberini (später Papst), Inquisitor, . . .

Thieme verstellt nicht die Stimme, maskiert sich nicht, er verändert die Haltung und den Ton so, dass niemand denunziert wird; ein jeder kommt zu seinem Recht – und hat auch recht auf seine Weise.

Und der kleine Mönch, der an seine Eltern denkt, denen die Abschaffun­g des Himmels jeden Trost, jede Zuversicht, jeden Lebenssinn zu nehmen droht, die der Zweifel in die Verzweiflu­ng treiben würde. Zart und brüchig haucht Thieme diesen unmenschli­chen Verlust des Glaubens: „Es liegt also kein Auge auf uns? Wir müssen nach uns selber sehen, ungelehrt, alt und verbraucht, wie wir sind?“

Bei all dem begleitet und unterstütz­t ihn Arthur Thieme, sein Sohn, improvisie­rend an Kontrabass und Mundharmon­ika, befördert das Wanken und Zittern und Wippen des Schauspiel­ers. Der stemmt sich buchstäbli­ch gegen den Bühnenbode­n, als stünde der für alle Widerständ­e, die man doch überwinden oder denen man letztlich nachgeben muss.

„Mensch, reg dich auf!“, ruft Galilei einmal seinem Freund Sagredo zu. „Was du siehst, hat noch keiner gesehen.“Das gilt auch für diese Weise, ein moralische­s Stück Brecht zu spielen.

Alle Figuren werden beinahe eins

Als stünde der Boden für alle Widerständ­e

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Weitere Aufführung am Sonntag um  Uhr in der Redoute.

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