Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Platini war der Beste

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976 – der Elfmeter-schuss von Uli Hoeneß in den Nachthimme­l von Belgrad gegen Tschechien kam für mich zu früh. Auch die Final-tore von Horst Hrubesch gegen Belgien vier Jahre danach. Später zwar oft gezeigt, berührten sie mich damals kaum. Wer lässt sein zweioder sechsjähri­ges Kind auch spätabends Fußball schauen? Und was ahnt der Steppke von der Bedeutung?

EM – das klingt für mich auf immer und ewig nach Frankreich und 1984. Ein Hauch von Welt schwappte via TV herüber, wenn dieses kühn geschwunge­ne Logo auftauchte. Ein Charme, ein Zauber. Nachdem zuvor Waldemar Cierpinski und Olaf Ludwig meine Leidenscha­ft fürs Laufen und den Radsport geweckt hatten, begeistert­e mich das Endrunden-spektakel – übrigens mit acht statt 24 Teams – für den internatio­nalen Fußball. Sozusagen als Ur-erlebnis. Verbunden mit einem Namen: Michel Platini!

Was vollführte der denn da auf dem Platz? Taktisch ein Allrounder und technisch perfekt – so pushte der Star die „Tricolore“zum Titel. Und er bewies besonderes Geschick, indem er neun der 14 französisc­hen Tore erzielte. Bis heute Em-rekord – obwohl er im Turnier nur fünf Spiele „Zeit“hatte. Seine Nachfolger haben bis zu sieben.

Deutsches Abschneide­n? War damals für mich nebensächl­ich und rasch erledigt: Die DDR hatte, mal wieder, die Quali vergeigt. Die BRD blamierte sich in der Vorrunde unter Jupp Derwall. Sicherheit­sbedenken? Weit weg – heile Welt ein Jahr vor der Heysel-katastroph­e von Brüssel. Es waren perfekte, dramatisch­e Spiele. Wie die mitternäch­tlichen Halbfinald­ramen Frankreich – Portugal (3:2 n. V.), das natürlich Platini entschied, und Spanien – Dänemark (5:4 n.e.) mit meinem damals zweitliebs­ten Spieler Preben Elkjaer Larsen, dem vom Punkt die Nerven versagten.

„Les Bleus“, die Blauen, waren das Maß aller Dinge. Sagenhaft: Platinis Dreifachst­reiche gegen Belgien (5:0) und Jugoslawie­n (3:2)! Und auch beim 2:0 im Finale gelang dem Genie mit einem seiner speziellen Freistöße die Vorentsche­idung.

Im Spiel unterstütz­te den „Künstler“ein perfektes Umfeld – die überragend­e Mittelfeld-formation mit Alain Giresse, Jean Tigana und Luis Fernández, die viele Laufwege für den Chefdirige­nten und -vollstreck­er erledigten. Das magische Viereck.

Platini sah ich leider niemals selbst im Stadion spielen. Aber Tigana und Giresse – wie sie ein paar Jahre später mit Girondins Bordeaux von Lok Leipzig im Europapoka­l entzaubert wurden. Angeführt durch René Müller, den Torhüter-titan und späteren Erfurter Aufstiegst­rainer.

Entzaubert ist nun auch Platini. Zumindest, was seine Funktionär­skarriere anbelangt. Hätte der „Maitre“als Uefa-präsident nur halb so sauber und fair gespielt wie einst auf dem Platz – er müsste keine Vier-jahres-sperre absitzen. So aber wird sein Ehrenplatz leer bleiben – bei der EM im eigenen Land, für die er einst kämpfte. Und so einleuchte­nd auch die Korruption­svorwürfe gegen ihn sind: Es schmerzt immer ein wenig, wenn Idole der Kindheit zerbrechen. Entwachsen einem Turnier, das mir so viele unvergessl­iche Momente schenkte. In einer anderen Zeit, in einer anderen Welt.

Sicher, die Em-geschichte hielt auch danach viel Denkwürdig­es bereit: die eleganten Holländer 1988. Die Dänen, die 1992 schon in den Urlaub entschwund­en waren, dann für das bürgerkrie­gsgeschütt­elte Jugoslawie­n im Turnier einsprange­n und den Titel feierten. Wie die Vogtself 1996 oder Rehhagels Sensations­griechen acht Jahre später. . .

Nie wieder aber habe ich wie 1984 jede Spielminut­e so aufgesogen, Szenen mit den anderen Jungs tags darauf so hingebungs­voll nachgespie­lt. Jedes Kind hat wohl seinen Seeler, Pelé, Beckenbaue­r, Cruyff, Maradona, Zidane . . . Müller, Götze. Und jedes seine Szene, die sich als Anfang von etwas einbrennt und Jahrzehnte später immer noch erinnert. An glückvolle, perfekte, magische Momente.

Für mich ist es die nie enden wollende Zeitlupe eines Flugkopfba­ll-tores 1984. Natürlich von Platini.

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