Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Herberts Hüftschwun­g

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dann rennt Grönemeyer wieder über die riesige Bühne, von der linken auf die rechte Seite und zurück ins Zentrum. Dazu tanzt er, er tippelt, dreht Pirouetten, lässt die Hüfte kreisen und wiegt sich im Rhythmus. „Ich bin hinlänglic­h bekannt als Tanzgenie“— Grönemeyer kann eben auch selbstiron­isch.

Vor allem aber ist er ein politische­r Mensch. Bevor der Musiker „Unser Land“anstimmt, wird er ernst. Es geht ihm um die Flüchtling­skrise, die Asylanten und die Ablehnung die ihnen vielerorts entgegensc­hlägt. „Da ist etwas aus den Fugen geraten“, warnt Grönemeyer mit Blick auf das grausame Geschehen im Mittelmeer. Und das dürfe man eben nicht zulassen: „Wir müssen das Land offen halten – gemeinsam schaffen wir das.“Wenn der Rockstar Grönemeyer von Zivilcoura­ge und Haltung gegen Rechts spricht, dann erreichen die Worte auch jene, die sonst allzu gerne und immer öfter weghören. Ihm, dem Volksgewis­sen seit Jahren, nimmt man die Ergriffenh­eit ab.

Wer so lange im Geschäft ist, muss ein ganz besonderes Gespür für Melodien haben. Dabei hat man dem Künstler vor 27 Jahren erst mal keine große Zukunft vorausgesa­gt. Die Musik sei viel zu komplizier­t und die Texte würde sowieso keiner verstehen, hieß es damals. Doch Grönemeyer nuschelte sich in die Herzen der Menschen.

Das ist bis heute so geblieben. „Vollmond“, „Bochum“, „Männer“– je älter die Songs sind, desto größer ist die Begeisteru­ng der Fans im Erfurter Stadion. Herbert Grönemeyer juchzt und schluchzt und jodelt dazu – und immer wieder sagt er: „Klasse, schön, unfassbar, unfassbar schön“. Dabei freut er sich wie ein kleiner Junge.

Seine Kondition ist bemerkensw­ert. Bei „Alkohol“rast er ins Publikum, klatscht Hände ab und winkt – die Massen im Stadion sind begeistert. Mittlerwei­le stehen auch die Fans auf der Tribüne.

Nur mit Blumenkran­z auf dem Kopf will sich der Sänger partou nicht fotografie­ren lassen – „ich mache mich doch hier nicht zum Horst“, sagt Grönemeyer. Wer will schon einen Rockstar sehen, der ein paar Plasteblum­e im Haar hat. . .

Wenn Herbert Grönemeyer von Liebe und Gefühlen singt, kann man die Nähe zwischen Künstler und Publikum am besten spüren. Bei „Flugzeuge im Bauch“umschwirre­n den Sänger einige Papierflie­ger, ansonsten herrscht andächtige­s Schweigen. Bei „Mensch“und „Der Weg“halten sich viele der Zuhörer an den Händen. Die feinen Songs zeigen einmal mehr, dass man als Musiker in Würde altern kann, ohne verstaubt zu wirken. Live wirken die superstark­en Melodien und eindringli­chen Texte noch intensiver, der Künstler sitzt am Klavier, lässt sich vom Kontrabass begleiten. Gänsehaut pur, auch wenn der Sound im Stadion während des gesamten Konzertes recht matschig rüberkommt

Die Fans stört das aber nicht. Herbert Grönemeyer weiß, was die 21 000 wollen, er dehnt den Glücksmome­nt immer weiter aus. Fast hat man das Gefühl, dass der Künstler einfach nicht nach Hause will. Zugabe folgt auf Zugabe. Der „Mambo“darf natürlich nicht fehlen, „Bleibt alles andere“erklingt, später kommt noch der Kracher „Kinder an die Macht“.

Der Sänger macht alles richtig. Irgendwann zieht der bekennende Fußballfan ein Trikot von Rot-weiß über – und zeigt sich dem Publikum in den verrücktes­ten Posen. Auf dem Rücken steht: „96 Herbert“. Eine Anspielung auf ein Ta-interview, in dem er verraten hat, dass er mindestens 96 Jahre alt werden will. Das Trikot war ein Begrüßungs­geschenk in seiner Garderobe.

Das Finale rückt näher. „Jetzt werden die Rester weggespiel­t“, ruft der Musiker. Und bekennt: „Es ist das ultimative Glück, hier zu stehen.“Es gibt sicher wenige Musiker, denen man solche Entzückung­s-formeln abnimmt.

Fast drei Stunden sind um. Grönemeyer ist ausgepower­t, das spürt man. Doch liegt das weniger an seinem Alter, als am musikalisc­hen Marathon.

Es gibt sicher nicht viele Rockstars, die eine solche Kondition haben. Und noch weniger können drei Stunden lang nur Hits singen. Der Malocher Herbert Grönemeyer ist und bleibt eben etwas ganz besonderes.

Grönemeyer will keine Plasteblum­en im Haar

Mehr Fotos aus dem Stadion: www.thueringer­allgemeine.de

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Während die einen ins neue Erfurter Stadion strömten, um möglichst nah an der gigantisch­en Bühne zu stehen, genossen die anderen im nahen Südpark die kostenlose Beschallun­g bei einem Picknick. Herbert Grönemeyer war das egal, er zeigte sich bei seinem...
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