Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Legende Altig erliegt Krebsleide­n

Unser Radsport-reporter erinnert an Begegnunge­n mit dem Idol, das im Alter von 79 Jahren gestorben ist

- Von Michael Voß

Erfurt. Auch seinetwege­n wollte mein Vater – ein glühender Radsport-fan — in den Westen flüchten. Mitte der 1960er-jahre, als die Ddr-erfolge von Täve Schur ein wenig verblasste­n, überstrahl­ten die Siege von Rudi Altig alles, auch die deutsche Grenze. Er war ein Idol – auch für spätere Generation­en. Der Erfurter Topsprinte­r Marcel Kittel bezeichnet den Mannheimer als „unser erster deutscher Radheld, ein Wegbereite­r“, für die Franzosen war er „Sacre Rudi“. Nun herrscht große Trauer: Altig erlag am Samstag im Alter von 79 Jahren einem Krebsleide­n.

Lange vor Dietrich Thurau oder Jan Ullrich hatte er die Massen am Straßenran­d begeistert. Und der bis dato letzte deutsche Profi-weltmeiste­r auf der Straße hat vergeblich auf einen Landsmann als Nachfolger gewartet. Im Oktober auf dem Parcours von Doha wäre die Chance sehr groß gewesen, Kittel, André Greipel oder John Degenkolb gratuliere­n zu können. „Ich bin sehr traurig“, twitterte auch der dreifache Zeitfahr-weltmeiste­r Tony Martin.

Ich sah Altig selbst nie selbst fahren – doch mein Vater beschrieb ihn mir schwärmeri­sch als unerbittli­chen Kämpfer auf dem Rad. Bei der Tour de France holte der bullige Sprinter aus Mannheim acht Etappensie­ge und trug 18 Tage das Gelbe Trikot, was nach ihm nur noch dem einzigen deutschen Toursieger Jan Ullrich 1997 gelang. 50 Jahre nach Altigs Titelgewin­n 1966 auf dem Nürburgrin­g sollte am Ort seines Triumphes im Juli ein großes Jubiläumsr­ennen zu seinen Ehren stattfinde­n. Es muss ohne die Hauptperso­n auskommen.

Ich begegnete ihm erst nach der Wende – in einem kurzen Gespräch am Rande der WM 1991 in Stuttgart, später als Gast bei der Thüringer Burgenfahr­t. Als Experten unserer Zeitung konnte ich ihn danach, „fast zu jeder Uhrzeit“(das schlug er einst selbst vor) zu Themen anrufen. Einmal war es kurz vor Mitternach­t.

Was in den Gesprächen immer auffiel: seine unverstell­te Art, seine herzliche Direktheit und seine Lebensfreu­de. Die half ihm offenbar, auch sehr schwere Kämpfe um seine Gesundheit lange zu bestehen. Altig litt seit langem unter der Krankheit. 1994, damals Tv-experte bei Eurosport, meisterte er eine Magenkrebs-erkrankung. Im Gegensatz zu seinem damaligen Reporter-chef Peter Woydt, der fast zu selben Zeit erkrankte und daran starb. Altig ging offensiv mit seinem Leiden um. „Wer es nicht weiß, wird es kaum merken. Ich esse eben kleinere Portionen – und meinen Wein trinke ich trotzdem“, sagte Altig.

Altig gehörte zu den erfolgreic­hsten deutschen Fahrern überhaupt. 18 Etappensie­ge feierte er bei den drei großen Rundfahrte­n Tour, Giro und Vuelta. Seine außergewöh­nliche Karriere hatte er mit drei Wm-titeln in der Einerverfo­lgung auf der Bahn gestartet. Nach seinem Wechsel auf die Straße konzentrie­rte er sich auf die Klassiker, gewann die Flandern-rundfahrt (1964) und Mailand–sanremo (1968). Sogar der Gesamtsieg bei der Spanienrun­dfahrt glückte ihm. Für einen Tour-erfolg reichte es nicht, sein Kampfgewic­ht von 85 Kilo war nicht optimal. 1962 holte er als erster deutscher Radprofi das Grüne Trikot. Bis ins hohe Alter blieb Altig seinem Lieblingss­port eng verbunden. Noch vor wenigen Jahren legte er 2000 bis 3000 Kilometer pro Saison auf dem Rad zurück, spielte Golf.

Auch den Kopfstand als Yogaübung zur Wirbelsäul­en-entlastung beherrscht­e der Rentner ohne Probleme. Der gelernte Kfz-mechaniker war Bundestrai­ner, Rennleiter bei „Rund um den Henninger Turm“in Frankfurt und „Rund um Köln“. Auch in der rheinische­n Metropole herrschte am Sonntag bei der 100. Austragung des Traditions­rennens Trauer.

Rudi Altig eroberte 1966 das Wm-trikot – als bislang letzter Deutscher bei den Profis. Bei der Tour de France fuhr er 18 Etappen im Gelben Trikot.

Umstritten­e Haltung zum Thema Doping

Seine Haltung zum Thema Doping war derweil umstritten: Zu seiner aktiven Zeit trug er den Spitznamen „radelnde Apotheke“wohl nicht zu Unrecht, weil er mit dem ein oder anderen „Mittelchen“nachhalf. Altig wurde 1969 bei der Tour des Dopings überführt, 1966 hatte er sich einer Kontrolle entzogen. Angesichts der Skandale um Armstrong und Ullrich plädierte er für Dopingfrei­gabe.

Für Altig waren die Sünden von einst ein Kavaliersd­elikt. „Ich weiß, was ich damals gemacht habe. Mit Doping hatte das nichts zu tun. Wir haben gut trainiert, viel geschlafen und gut gegessen, und wenn wir Kopfweh hatten, gab‘s vom Arzt eine Tablette. Das machten doch alle so. Doping ist, wenn man Blut panscht“, meinte er.

Das letzte Mal zu Wort meldete sich Altig in diesem Frühjahr. Er sprach, gezeichnet von der Krankheit, John Degenkolb (den Thüringer sah er als seinen Nachfolger) nach dessen Trainingsu­nfall Mut zu. Auch er habe einen Finger eingebüßt, als er einst als Kind gemeinsam mit seinem Bruder unvorsicht­ig mit einer Axt gespielt hatte.

Das letzte Mal traf ich Altig 2013, als er bei einem Legendenre­nnen im sächsische­n Zwenkau startete. Meine damals dreijährig­e Tochter setzte er vor dem Rennen für ein Foto auf seinen Rennsattel und gab ihr, selbst zweifacher Opa, rührend großväterl­iche Tipps.

Die Westflucht meines Vaters, übrigens per Rennrad, endete 1968 an der thüringisc­h-hessischen Grenze. Zwei Jahre Haft folgten. 1991 starb mein Vater an Krebs. Nun folgte ihm Rudi Altig.

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Historisch: Rudi Altig fährt am . Juni  bei der Tour de France im Gelben Trikot. Seine Erfolge lösten eine Radsport-euphorie aus. Archiv-foto: Georg Renser, dpa

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