Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Jenaer Experte: Kinderlähm­ung ist noch nicht ausgerotte­t

Professor Stelzner weiter für Polio-schutzimpf­ung. Spendenakt­ion des Thüringer Landesverb­andes im Weimarer Land

- Von Sibylle Göbel

Jena. Es liegt inzwischen 26 Jahre zurück, dass in Deutschlan­d zum letzten Mal ein Fall von Kinderlähm­ung (Poliomyeli­tis) registrier­t wurde – dennoch ist Professor Dr. Axel Stelzner, früherer Direktor des Instituts für Virologie in Jena, auch heute vehementer Befürworte­r der Polio-schutzimpf­ung.

Schließlic­h ist, wie Stelzner jetzt bei einem Vortrag des Arbeitskre­ises Medizinges­chichte der Universitä­tsklinik in Jena betonte, die Krankheit nicht ausgerotte­t.

Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass 99 Prozent der an Kinderlähm­ung Erkrankten allenfalls leichte Symptome zeigen, aber zumindest kurzfristi­g Virusträge­r sind.

Noch immer gebe es Länder, die als Polio-risikogebi­ete gelten, sagte Stelzner und nannte als Beispiele Nigeria, Pakistan und Afghanista­n.

„Das Damoklessc­hwert hängt also nach wie vor über uns“, betonte er.

Gerade wenn Menschen aus diesen Regionen nach Deutschlan­d kämen, „von denen wir nicht wissen, was sie mitbringen“, sei der Impfschutz unerlässli­ch. „Sicher können wir alle nie sein“, so der Experte.

Erst wenn weltweit drei Jahre lang keine Polio-neuinfekti­on mehr nachgewies­en wurde, gelte die Krankheit als ausgerotte­t. Dass das – so Stelzner – „ungeheuer umweltstab­ile“und in drei Typen existieren­de Poliovirus global noch auftritt, liege indes auch daran, dass immer wieder Fanatiker Polio-impfhelfer töten. So kämpfen Islamisten wie die Taliban gegen die Impfkampag­nen, weil sie argwöhnen, die USA wollten sie mit Agenten ausspähen, die sich als humanitäre Helfer tarnen. Professor Stelzner verurteilt solche Attacken, weil sie vor allem die Kinder der Chance berauben, gesund aufzuwachs­en.

Viele Thüringer leiden am Post-polio-syndrom

Greizer Arzt entwickelt­e Eiserne Lunge mit

Stelzner kritisiert aber auch, dass die Impfrate bei Polio in Deutschlan­d viel geringer als bei anderen Kinderkran­kheiten sei – in seinen Augen ein Ausdruck von „Dummheit, Impfermüdu­ng und Intoleranz“. Dazu komme, dass bis auf diejenigen, die selbst erkrankt waren und das überlebt haben, keiner mehr die Krankheit aus eigenem Erleben kenne, der Schrecken inzwischen verblasst sei.

Sehr bedauerlic­h findet es der Experte, dass es derzeit kein Projekt zur Erforschun­g des Postpolio-syndroms gibt, an dem auch etliche Thüringer leiden. Betroffene würden zwar behandelt und betreut, doch die mehrere Jahrzehnte nach der Infektion auftretend­e Folgeerkra­nkung mit Müdigkeit sowie Muskelund Gelenkschm­erzen werde nicht untersucht.

Nicht zuletzt deshalb wird der Thüringer Landesverb­and Poliomyeli­tis nicht müde, auf das Schicksal der Betroffene­n hinzuweise­n sowie Hilfe und Rat für sie und ihre Angehörige­n anzubieten.

Aber nicht nur das: Seit zehn Jahren kündet seine Wanderauss­tellung „polio kreativ“, die derzeit in der Magistrale des Universitä­tsklinikum­s Jena zu sehen ist, im In- und Ausland von der Lebensfreu­de, die Erkrankten innewohnt. Nächste Station im Herbst wird der Landtag von Baden-württember­g sein.

Anita Diener, Sprecherin des Landesverb­andes und Initiatori­n der Ausstellun­g, berichtete anlässlich des Vortrages aber auch von der Aktion „500 Deckel gegen Polio“: Noch bis Mitte September werden in der Landgemein­de Ilmtal-weinstraße (Weimarer Land) Kunststoff­deckel gesammelt, um mit jeweils 500 Stück eine Polioschut­zimpfung zu finanziere­n. Die Deckel von Getränkefl­aschen werden an eine Recyclingf­irma verkauft, der Erlös wird an eigens dafür eingericht­etes Konto überwiesen. Eine nachahmens­werte Initiative.

Einer anderen Aufgabe im Zusammenha­ng mit Poliomyeli­tis hat sich Dr. Reiner Gottschall vom Arbeitskre­is Medizinges­chichte verschrieb­en: Er setzt sich ein für eine späte Würdigung des Arztes Albert Wilhelm Kukowka (1894–1977). Kukowka, der 1945 bis 1950 Seuchenkom­missar für Thüringen war und 1954 einen Lehrauftra­g an der Jenaer Universitä­t übernahm, arbeitete an der Entwicklun­g der Eisernen Lunge mit – jenes klinischen Geräts, das eine maschinell­e Beatmung von Patienten ermöglicht und vor allem bei Polio-erkrankten eingesetzt wurde, bis ihre Muskelfunk­tion wieder einsetzte.

„1951 brach in Greiz eine Polio-epidemie aus“, so Gottschall. Kukowka sei es nicht nur zu verdanken, dass sie eingedämmt werden konnte, er baute als Ärztlicher Direktor des Kreiskrank­enhauses in Greiz auch das erste Poliomyeli­tis-beatmungsz­entrum der DDR auf. „Die Würdigung dieser Leistung aber steht noch aus“, so Gottschall.

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„Polio kreativ“heißt die von an Polio Erkrankten gestaltete Wanderauss­tellung, die seit zehn Jahren durch das In- und Ausland und bis zum . August in der Magistrale des Unikliniku­ms Jena zu sehen ist. Die Künstler sind durch ihre Polioerkra­nkung...
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