Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
„Hier bin ich Mensch, hier darf ich (still) sein“
Tim Gassauer sprach mit dem Ersten Kapellmeister Michael Ellis Ingram kurz nach seiner Rückkehr aus den USA. Er wechselt von Nordhausen nach Schwerin
Moin Michael. Wie war Ihr Tag bis jetzt?
Moin, Tim. Es ist schön, am Leben zu sein, und ich fühle mich fast so, als wäre ich wieder vollständig angekommen, nach meiner Reise in die Staaten.
Jetlag erfolgreich überwunden?
Nicht ganz. Ich war heute noch bis 6 Uhr in der Früh wach. Normalerweise gewöhne ich mich viel schneller an die Zeitverschiebung, aber vielleicht werde ich auch einfach nur alt.
Was haben Sie dabei empfunden, als Sie Ihr Heimatland sowie Ihre Familie und Freunde wiedergesehen haben? Wie sehr hat sich Mutti gefreut? Die Heimat kommt mir immer wieder fremd vor. Die Straßen sind umgebaut und umbenannt, die bekannten Häuser mit anderen Farben gestrichen, wenn sie überhaupt noch da sind. Mit der dortigen Kultur kann ich sowieso wenig anfangen. Dafür freut sich aber meine Familie riesig über jedes Wiedersehen – und ich mich auch. Insgesamt war die Reise sehr wohltuend und erholsam für die Seele. Und meine Mama hat Chili gekocht!
Wie sehr fehlt der Us-amerikanische Alltag? Gibt es irgendwas, das Sie in Deutschland gerne einführen würdest? Mehr Steakhouses oder Hot-dog-stände vielleicht? Man könnte hier ruhig ein paar Wasserspender hinstellen. Drüben sind sie in jedem öffentlichen Gebäude zahlreich vorhanden. Ohne sie habe ich permanent Durst. Der amerikanische Alltag fehlt mir ansonsten eigentlich nicht, insbesondere die Fahrerei. Meine Heimatstadt ist nicht besonders groß, aber man verbringt trotzdem ein paar Stunden am Tag im Auto, weil alles so weitläufig ist.
Bekommen Sie immer noch einen Kulturschock, wenn Sie wieder in Deutschland ankommen, oder fühlen Sie sich mittlerweile auf Anhieb wohl? Kulturschock funktioniert bei mir eigentlich andersherum, denn meistens fühle ich mich eher in den USA komisch. Es ist beispielsweise recht anstrengend, mich an die typisch Usamerikanische, scheinbar grenzenlose Freude am Quatschen mit Wildfremden zu gewöhnen. Diesbezüglich geht es mir in Mitteldeutschland eindeutig besser. Hier bin ich Mensch, hier darf ich (still) sein.
Was hat Sie eigentlich dazu bewegt, die USA in Richtung Nordhausen zu verlassen? Thüringer Klöße eventuell? Oder war es doch die Bratwurst, die Sie überzeugt hat? (Sorry, ich hätte wohl vor dem Interview etwas essen sollen – my bad.) Bratwurst kannst du vergessen, aber bei Original Pfieffetaler bin ich sofort Feuer und Flamme. Meine erste Station in Deutschland war aber Sachsen. Dort habe ich an den Hochschulen in Leipzig und Dresden unterrichtet und dabei ein Meisterklassenexamen absolviert. Zwei Jahre danach bin ich dann „Echter Nordhäuser Kapellmeister“geworden. (Ob ich vor dem Interview etwas hätte trinken sollen...?)
Welcher erste Eindruck von Nordhausen ist Ihnen bis heute in guter (oder eben schlechter) Erinnerung geblieben? Vor Lars Tietjes Büro im Theater hing ein Bild von einem Leuchtturm, als er mir die Stelle angeboten hat. Ich bin in einem landumschlossenen Bundesstaat großgeworden, und daher faszinierte mich schon immer der Leuchtturm als Sinnbild für die große, weite Welt. Das Bild im Büro galt für mich als Wink von oben und bestätigte meine Entscheidung, nach Nordhausen zu ziehen.
Kommen wir nun also mal auf Ihre eigentliche Arbeit zu sprechen. Kapellmeister. Klingt ziemlich beeindruckend, aber was genau machen Sie da wirklich? Ich assistiere dem Generalmusikdirektor bei den Meisterwerken des Opernrepertoires und dirigiere auch einige eigene Produktionen im Bereich Musical, Operette und Ballett. Der kapellmeistersche Alltag besteht aus Proben und Vorstellungen im Theater und Lernen und Üben zu Hause. Man greift also entweder den Stock oder eine Handvoll Klaviertasten.
Das klingt nach einer Menge Arbeit. Finden Sie dennoch ein paar Möglichkeiten, Freizeit-aktivitäten nachzugehen und wenn ja, welchen? Freizeit? Ich muss schnell mal im Duden nachschauen. Obwohl sie keine Freizeitaktivitäten sind, sind mir die geistlichen Übungen sehr wichtig. Ansonsten mag ich Sport, Lesen, Schreiben, anspruchsvolles Kino und gute Gespräche.
Ein vielseitiger und kreativer Kopf sind Sie also, nicht schlecht. Gibt es bei Ihnen trotzdem Momente fehlender Inspiration oder stellen sich Ihnen manchmal künstlerische Hindernisse in den Weg? An Kleinigkeiten – fehlende Motivation oder Lust etwa – halte ich mich meist nicht lange auf, sondern eher an komplexen, philosophischen Rätseln. Die Frage nach dem ultimativen Sinn der Musik hat mich in frühen Jahren zutiefst beunruhigt und manchmal monatelang vom Musizieren abgehalten. Ich ging lieber zu den Obdachlosen auf die Straße als zum Klavier, um irgendwelche Tonleitern zu üben. Kunst kam mir in diesem Augenblick zu blöd vor, zu nutzlos, zu fern von den eigentlichen Bedürfnissen der Menschheit. Die Erkenntnis, dass Gott wohl Schönheit an sich schätzt – auch ohne „Zweck“– da das Universum damit überfüllt ist, hat meine Liebe zur Musik dann peu à peu wiederbelebt. Ich denke gern an Nebelflecke.
Bei all diesen künstlerischphilosophischen Gedanken: Hatten Ihre Eltern nie Bedenken, dass „aus dem Jungen nix wird“? Hatten Sie jemals einen anderen Beruf im Sinn? Meine Eltern haben immer genau das unterstützt und gefördert, für das ich mich gerade interessierte, ohne sich dabei den Kopf zu zerbrechen. Bis ich mit 15 zum ersten Mal vorm Schulorchester stand, war bildende Kunst mein Ein und Alles. Die ganze Zeit zeichnete ich nur und hatte – wie noch heute – zu jeder Zeit einen Stift und ein Büchlein dabei.
Hört sich nach ziemlich viel Vertrauen in Sie an, das Ihnen Ihre Eltern schenkten. Mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie sich dazu entschieden haben, Nordhausen zu verlassen und nach Schwerin zu ziehen. Wie kam es dazu, und ist Ihnen diese Entscheidung schwergefallen? Schwerin als Stadt hat mich schon entzückt (Wasser!), lange bevor es sich um einen Job drehte. Es ergab sich ziemlich kurzfristig, dass eine Stelle dort am Staatstheater frei wurde, und ich konnte mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen. Es ziehen ja ein paar gute Menschen dahin. Nach all den Jahren weg von „zu Hause“fallen mir Abschiede nicht mehr schwer, obwohl ich meinen Nordhäuser Freundeskreis schon sehr vermissen werde. Wie ich aber meiner Freundin Frau Albrecht immer sage: Ich verlasse den Ort, nicht die Menschen.
Was erwarten Sie von Ihrem Wechsel nach Schwerin und gibt es neue Aufgaben, denen Sie sich stellen müssen? Dort werde ich unter anderem viel mit dem Schauspielensemble und der Mundartbühne zusammen musizieren. Die Singstimme eines Schauspielers ist meine große Liebe, muss ich gestehen. Somit erfülle ich mir in Schwerin einen Lebenstraum.
Gibt es irgendetwas, das Sie an Nordhausen und vor allem an der Arbeit im Nordhäuser Theater besonders vermissen werden? Das musikalische Leitungsteam wird mir schon sehr fehlen. Wir vier – Generalmusikdirektor, Studienleiter, Chordirektor und Kapellmeister – haben uns so perfekt verstanden, dass selbst die heikelsten Angelegenheiten harmonisch und respektvoll besprochen werden konnten, was keineswegs selbstverständlich ist. Außerdem haben sich unsere Schwerpunkte gegenseitig ergänzt, da wir in unseren musikalischen Ansichten ziemlich einig waren. Ein wahrhaftes Dreamteam.
Auf jeden Fall wünsche ich Ihnen alles erdenklich Gute für Ihre Zukunft in Schwerin! Als wir vor ein paar Wochen zusammen mit Samuel Drößler ein paar Fotos von Ihnen gemacht haben, waren Sie sehr experimentierfreudig und hatten Spaß daran, sich an der Umsetzung neuer Ideen zu beteiligen. Wie wichtig ist Ihnen die Zusammenarbeit mit anderen Formen der „Kunst“? Sehr. Die Schritte Nijinskys sind mir genauso bedeutend wie die Worte Rilkes, und eine innige Melodie von Schumann kann in mir die Träumerei genauso auslösen wie ein blauer Akt von Matisse oder ein rührend vorgetragener Monolog von Shakespeare. Ich habe daher sehr gerne mit Künstlern diverser Fachrichtungen zusammengearbeitet: Maler, Tänzer, Filmemacher, Dichter, Akrobaten, Philosophen. Ach ja, und Fotografen.
Was würden Sie jungen, kreativen Menschen mit auf den Weg geben wollen? Das ist keine Probe fürs Leben, sondern das Leben selbst. Zieht also die Stöpsel aus den Ohren und macht doch was.
Eine letzte Frage noch: Wie lang hat es gedauert, bis Sie die Frage „Wieän?“verstehen und richtig beantworten konnten? In vier Jahren hat mich das noch keiner gefragt, obwohl ich mittlerweile weiß, was die Nordhäuser damit sagen wollen. Das Allerbeste ist aber, was die liebe Bäckerin immer sagt: „Schönes Wochenende, nisch?“
Sehr gut, vielen Dank für das Interview! Was liegt bei Ihnen heute noch so an? Bitte sehr. Ich glaube, ich gehe jetzt doch noch schlafen... oder versuche es zumindest.