Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Star und Sorgenkind
Zwischen Griezmann und Müller gibt es viele Gemeinsamkeiten, in diesem Turnier aber einen Unterschied – die Tore
Évian-les-bains. Frankreich hat Spongebob, Deutschland hat einen Müller. Das sollte eigentlich als Glücksbringer reichen. Aber so einfach ist das nicht.
Unten drunter trägt Antoine Griezmann bei jedem Spiel eine Boxershorts mit der Comicfigur Spongebob – einem gelben Schwamm in kurzen Hosen. Das tat der 25-Jährige schon zu Beginn seiner Karriere in San Sebastian. Und diesem Ritual folgt er auch heute noch, da der Angreifer einen beträchtlichen Anteil daran hat, dass die französische Nationalelf im morgigen Em-halbfinale gegen Deutschland steht (21 UHR/ZDF).
Spongebob ist Griezmanns Talisman – und Griezmann der für die „Equipe Tricolore“. Mit vier Treffern führt der „wahre Sonnenkönig“, wie in die spanische Zeitung „Marca“getauft hat, die Em-torjägerliste an. Zwei weitere Treffer hat er vorbereitet.
Deutscher Sonnenkönig war immer Thomas Müller. Der Bayer strahlt übers Gesicht, egal wie die Dinge stehen, und das macht ihn am Ende ebenso unantastbar. Auch gestern strahlte Müller, als er gefragt wurde, warum er immer noch kein Tor erzielt habe. Das sei doch das Benzin in seinem Motor. „Mein Benzin ist das nicht“, konterte der 26-Jährige, „sondern der Speziallack auf dem Auto, der nach außen gut aussieht. Mein Benzin ist mein Antrieb, mit der Mannschaft etwas Großes zu leisten“. Wieder eine dieser Müller-shows.
Joachim Löw hätte nichts dagegen, wenn er auch auf dem Rasen mal wieder einer Müllershow beiwohnen könnte. Denn Müller war immer der Talisman der deutschen Elf. Alle 18 Turnierund Qualifikationsspiele gewann Deutschland, wenn der Münchner traf. Doch in Frankreich muss sich Löws Team seit fünf Partien ohne Müller-tor durchschlagen. Der Bundestrainer macht sich aber keine Sorgen: „Irgendwie habe ich das Gefühl: Wenn es ein Tor wirklich braucht, dann macht er eines.“Gegen Frankreich braucht es womöglich ein Müller-tor. Mario Gomez fällt aus, und Mario Götze sucht immer noch nach dem Weg ins Turnier. Müller könnte in die Spitze vorrücken.
Wo Antoine Griezmann spielen wird, ist schwer zu ermitteln. Der Stürmer von Atlético Madrid verlegt seine Streifzüge je nach Sachlage mal auf den Flügel, mal hinter die Sturmspitze. Manchmal ist er sogar Zehner wie beim 5:2 im Viertelfinale gegen Island. Griezmann ist schwer zu fassen, und da ähnelt er Müller. Auch der folgt seinem Instinktfußball oft auf Schleichwegen dorthin, wo er ihn hinführt. Auch er ist schwer zu fassen. Zwei Halbstürmer mit schmalen Schultern und dünnen Beinen. Zwei Raumdeuter. Aber es gibt einen Unterschied bei dieser EM: Griezmann ist für Frankreich, was Müller für Deutschland hätte sein sollen: der Star. Müller ist eher das Sorgenkind.
Der sieht das freilich völlig anders. Er sagt, er sei nicht frustriert. Denn bis auf ein, zwei vergeudete Chancen gegen Nordirland habe er sich selbst nichts vorzuwerfen. Sicher: „Ein Tor würde mir Ruhe geben, dann müsste ich keine Fragen mehr beantworten. Aber ich bin nicht hier, um Lob zu erhalten“, sagt Müller. Er ist in Frankreich auch so etwas wie der Moderator seiner eigenen Torkrise geworden. Kein Spieler stellte sich öfter.
Erstaunlich ist die Müllersche Torlosigkeit deshalb, weil er zuvor die beste Saison seiner Karriere gespielt hatte: 32 Pflichtspieltreffer gelangen ihm bei den Bayern. Auch Griezmann hat 32 Tore erzielt. Aber vielleicht hätte man ahnen können, wie unterschiedlich das Turnier für beide laufen würde, als vor ein paar Wochen ihre Klubs im Halbfinale der Königsklasse aufeinander trafen: Müller verschoss einen Elfmeter, der im Rückspiel das 2:0 bedeutet hätte, Griezmann traf zum 1:1. Sein Tor brachte Atlético ins Finale.
Griezmann und Müller gehören zu den wertvollsten Spielern der Welt: 70 bzw. 75 Millionen Euro beträgt ihr Marktwert. Ihre Karrieren aber begannen völlig konträr: Während Müller aus der Bayern-jugend emporstieg, um schon nach seiner zweiten Bundesliga-saison bei der WM 2010 Torschützenkönig mit fünf Treffern zu werden, hätte es den französischen Nationalspieler Griezmann gar nicht geben sollen. Bis er 14 war, fiel er stets bei Probetrainings durch. 2005 nahm er den Umweg über San Sebastian und die spanische Liga – und wechselte 2014 nach Madrid.
Für Löw ist die französische Müller-version Griezmann heute „ein Klassespieler und einer der wichtigsten für Frankreich“. Dasselbe sagt der Bundestrainer natürlich immer noch über seine eigene Müller-version.
Und dass beim echten Thomas Müller am Dienstagmorgen nicht mal im Training die Bälle reingehen wollten, hatte einen triftigen Grund: Im Tor stand Lukas Podolski.
Jeweils 32 Saisontreffer in ihren Vereinen