Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Das Spiel gegen alle Ängste

Für die Franzosen geht es im Em-halbfinale gegen die Deutschen neben dem Sport auch um Terrorbedr­ohung und wirtschaft­liche Nöte

- Von Peter Heusch

Paris. Endlich spielen sogar die Gewerkscha­ften und die Sonne mit. Auf der letzten Geraden der Fußball-em in Frankreich sind keine Streiks mehr zu vermelden. Noch dazu sind die bislang so hartnäckig­en Regenwolke­n abgezogen, und die Temperatur­en steigen in Richtung sommerlich­e Verhältnis­se. Auf einmal können und wollen sich auch die Franzosen über das große Fußballfes­t im eigenen Land freuen. Dem Halbfinalk­naller Frankreich gegen Deutschlan­d jedenfalls fiebern sie regelrecht entgegen.

Die Sorgen der Menschen in unserem krisengesc­hüttelten Nachbarlan­d – sei es die Terrorbedr­ohung, die Hooligan- und Anarchiste­ngewalt oder die hohe Arbeitslos­igkeit – wurden in den Hintergrun­d gedrängt. In den Stadien, Fanmeilen und Kneipen herrscht eine ausgelasse­ne Stimmung, und wenn die Franzosen doch schimpfen, dann in erster Linie über die Präsenz hoch gerüsteter Polizisten und Soldaten auf den Straßen, vor den Bahnhöfen, Stadien und Flughäfen. Sie wollen sich nach den langen, bedrückend­en Monaten, die der Attentatss­erie im November folgten, die erst spät aufgekomme­ne Feierlaune nicht weiter verderben lassen.

Einfach ist das nicht in einem Land, in dem nach wie vor der Ausnahmezu­stand herrscht und sich die Begeisteru­ng der Fans gegen die martialisc­he Anmutung von wie der Gazastreif­en bewachten Fanzonen oder von in Hochsicher­heitsgefän­gnisse verwandelt­en Stadien stemmen muss. Dazu kommt, dass Staatsund Regierungs­spitzen widersprüc­hliche Signale aussenden. Einerseits versucht Staatspräs­ident François Hollande, Gelassenhe­it vorzuleben, indem er demonstrat­iv alle Spiele der Tricolore-elf besucht. Anderersei­ts warnt er: „Das Land ist mit einer terroristi­schen Bedrohung sehr großen Ausmaßes konfrontie­rt.“

In das gleiche Horn stößt auch Bundesinne­nminister Thomas de Maizière (CDU). Er hält trotz des bislang weitgehend ruhigen Verlaufs der Europameis­terschaft die Anschlagsg­efahr noch nicht für gebannt. Je spektakulä­rer die Spiele würden und je stärker das französisc­he Team beteiligt sei, umso mehr könne dies erneut „ein Anziehungs­punkt“für Terroriste­n sein, sagte er der Nachrichte­nagentur Reuters in Berlin.

So berechtigt solche Ermahnunge­n zu Vorsicht und Wachsamkei­t auch sein mögen, so wenig tragen sie zur Beschwicht­igung ohnehin vorhandene­r Ängste bei. Trotzdem wird in den Medien das Thema Sicherheit seit dem Sonntag klein- und stattdesse­n König Fußball großgeschr­ieben.

Es war der 5:2-Sieg der Tricolore-elf über Island, der für diesen Umschwung sorgte. Weil er die Franzosen für das Halbfinale qualifizie­rte, natürlich. Aber vor allem, weil sie jetzt auf den deutschen Erzrivalen treffen. In den Augen der Kommentato­ren und der Fans ist dieses Spiel das vorgezogen­e Finale. Wobei die Mehrzahl unserer Nachbarn Deutschlan­d zwar in der Rolle des Favoriten sieht, aber dennoch an einen Sieg der „Bleus“glauben will.

Dennoch – für die Em-organisato­ren und die Behörden hat die Stunde der Entwarnung keineswegs geschlagen. Schon gar nicht in Marseille, wo das Match zwischen den Bleus und der „Mannschaft“ausgetrage­n wird und wo es in der Vorrunde zu den schwersten Hooliganau­sschreitun­gen kam.

In der Hafenstadt wurde die Zahl der Ordnungshü­ter seither an Spieltagen noch einmal um zwei Hundertsch­aften erhöht und die Kontrollen verschärft, denen die Fans und ihr Gepäck unterzogen werden.

Auch heute Abend werden die Zuschauer also gepanzerte Einsatzfah­rzeuge, Überwachun­gskameras, Metalldete­ktoren und Leibesvisi­tationen passieren müssen, bevor sie im Stadion Platz nehmen können.

Wobei dieser Aufwand wohl nicht nur die Einheimisc­hen an das letzte Spiel zwischen Frankreich und Deutschlan­d erinnern dürfte. Es fand am 13. November vergangene­n Jahres im Stade de France statt, vor dem sich drei Selbstmord­attentäter in die Luft sprengten, während nahezu zeitgleich sieben ihrer Komplizen eine breite Blutspur durch Paris zogen.

Es ist eben auch ein Willensakt, wenn die Franzosen es heute vorziehen, nicht an die 130 Toten und mehr als 300 Verletzten jener Terrornach­t, sondern an das Ergebnis des Matchs im Stade de France zu denken. Die Trikolore-elf gewann damals 2:0.

Verschärft­e Kontrollen in Hafenstadt Marseille

 ??  ?? Italienisc­he und deutsche Fußballfan­s verfolgen am . Juli auf der Fanmeile am Eiffelturm in Paris das Viertelfin­ale in Bordeaux. Foto: Peter Kneffel
Italienisc­he und deutsche Fußballfan­s verfolgen am . Juli auf der Fanmeile am Eiffelturm in Paris das Viertelfin­ale in Bordeaux. Foto: Peter Kneffel

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