Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Unfreiwill­iger Ausbruch aus der Pension

Seesen verehrt Steinway und Wilhelm Busch, ebenso sind Konservend­osen Thema im Stadtmuseu­m. Radroute vereint sich mit Fernweg

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Ilfeld. So sehr der Startpunkt des Karstwande­rwegs einen Südharzer lockt: Beim Blick auf die Karte verwerfe ich meinen Plan, von Förste aus auf zwei, drei Kilometern dorthin einen Abstecher zu machen. Denn es ist Nachmittag gegen zwei, und bis zum anvisierte­n Quartier in Seesen sind es noch mehr als 40 Kilometer: mit einigen Anstiegen, nachdem ich mit Förste auf 150 Meter über dem Meeresspie­gel den so ziemlich tiefstgele­genen Ort meiner Harzrundto­ur erreicht habe.

Ich nehme also den schnurgera­den (natürlich asphaltier­ten) Wirtschaft­sweg durch Raps und Getreide nach Badenhause­n, ja, später erstmals sogar die Straße statt des etwas längeren ausgeschil­derten Harzrundwe­gs über Teichhütte und Gittelde nach Münchehof. Schneller komme ich voran, passiere so auch das Grenzschil­d zwischen den Landkreise­n Göttingen und Goslar. Und doch genieße ich hinter Münchehof wieder den Waldweg, ist der auch steinig.

Seesen an der A 7 gilt als „Fenster zum Harz“

Seesen erreiche ich von Süden her – nicht wie die meisten von Westen: Keine fünf Kilometer vom Stadtkern entfernt verläuft dort die A 7, die Achse zwischen Basel und Hamburg. 1959 erhielt die Stadt den Autobahnan­schluss, das sollte Touristen in die Stadt spülen. Als „Fenster zum Harz“vermarktet sich Seesen heute, hat im Zentrum ein Dutzend entspreche­nd designter Bänke aufgestell­t. Durch eine „Fenster-bank“aus Beton sehe ich also die Burg „Sehusa“, eines jeden Sommers Kulisse für das größte Historienf­est Norddeutsc­hlands.

Wilhelm Busch steht vorm Rathaus, weil er doch ein Jahrzehnt seines Lebens in einem Seesener Ortsteil verbrachte. Und Heinrich Steinweg wird auch ordentlich vermarktet: In der Stadt war er Instrument­enmacher, bevor er mit 53 im Jahr 1850 beschloss, nach New York auszuwande­rn. „Steinway“nannte sich nun die Familie, und die Klaviere des Unternehme­ns standen bald auf den großen Bühnen der Welt.

Leipziger lotst auf richtigen Weg zurück

Dass aus Seesen die ersten deutschen Konservend­osen stammten, lese ich am nächsten Morgen in einem Buch. Dieses wollte ich eigentlich nie zur Hand nehmen – früh schmökert man nicht, sondern fährt los, wenn es 50 Kilometer bis zur nächsten Pension sind. Aber wer den Haustürsch­lüssel im Pensionszi­mmer liegen lässt, den Gastwirt telefonisc­h nicht erreicht, hat sich selbst eingesperr­t. Durchs Fenster gelingt mir die Flucht aus der „Winkelsmüh­le“. Nur: Es wird nicht das letzte Problem des Tages sein.

Schon zehn Kilometer weiter muss ich mir von Roberto Dietel sagen lassen, mich richtig verfahren zu haben – das erste Mal auf der Strecke. Für den Bauhof von Lutter will er gerade Grünschnit­t am Feldrand abladen, als er sich bei Hahausen mit meiner Radwanderk­arte konfrontie­rt sieht. Ob ich Richtung Goslar richtig sei? Ja, aber der Radweg verläuft auf der anderen Seite der Bahnschien­en, sagt er. Sein Leipziger Dialekt lässt aufhorchen. 1988 sei er „rüber“, der Liebe wegen dann hängengebl­ieben, erzählt er. Er habe vorher zwar alles gehabt, ein Haus, einen Lada, „aber irgendwann fragt man sich, warum einem niemand sagt, dass die Bäume drüben auch nur grün sind“.

Der Sicherheit wegen hörte er vor Jahren als Schlosser auf, heuerte beim Bauhof an. Nun mäht er Rasen und schaut darauf, dass kein Schild auf dem Harzrundwe­g fehlt.

Ich fahre fortan also rechts der Bahnlinie, bald steil hoch in den Wald. Hier schiebt auch Jose Wenneckes. Mit zwei Freunden ist die Seniorin aus der Nähe von Utrecht seit sechs Tagen unterwegs, Kilometer 648 steht auf ihrem Tacho. Mit 25 Kilo Gepäck. Sie hat meinen Respekt. Nach Berlin wollen die drei, „auf dem R1“. Dieses Kürzel begegnete mir schon kurz hinter Seesen das erste Mal am Weg, es wird mich noch mehr als 100 Kilometer bis Falkenstei­n ganz im Nordosten des Harzes begleiten. R1 steht für Europaradw­eg, eine 4000 Meter lange Strecke zwischen London und St. Petersburg. Radfahrer gibt’s…

Jose Wenneckes erzählt von ihrer Tour nach Barcelona in 23 Tagen, ihr Freund gibt dem schweren Rad schiebend von hinten Schwung. „Ich möchte sagen, die Strecke geht nicht um den, sondern durch den Harz.“

Mit Langelshei­m passieren wir eine ziemlich belanglose Stadt. Auch hier im Westen haben sie es geschafft, direkt neben die Kirche einen tristen Plattenbau zu setzen. Und eine Konsumstra­ße gibt’s auch noch. Einen Bahnhof sowieso mit Park&ride-platz, Goslar ist nur sieben Kilometer weit.

Morgen geht die Tour weiter. Eine digitale Karte des Rundweges mit Sehenswürd­igkeiten und Übernachtu­ngsmöglich­keiten finden Sie auf www.tanordhaus­en.de

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Mit solchen „Fenster-bänken“greift die Stadt Seesen ihren Slogan „Seesen – Fenster zum Harz“auch im Stadtbild auf. Die Burg Sehusa ist im Sommer Kulisse für das größte Historienf­est Norddeutsc­hlands.
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Roberto Dietel erklärt in schönstem Leipziger Dialekt, wie‘s richtig nach Goslar geht. Fotos (): Kristin Müller

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