Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Der Tag, an dem Nordhausen wegsah

Im Südharz brach der Judenhass früh aus. Heute gibt es wieder eine kleine Gemeinde und Projekte gegen das Vergessen

- Von Peter Cott und Marcus Voigt

Am Morgen des . November  blicken Schaulusti­ge auf die ausgebrann­te Synagoge in Nordhausen. Nordhausen. Es sind erschrecke­nde Zeilen, die die Leser der „Allgemeine­n Zeitung“am 5. August 1935 zu lesen bekommen: „Eine Frage, die heute die ganze Welt bewegt, ist die Judenfrage. Die Stadt Nordhausen ist überzeugt, eben weil sie nationalso­zialistisc­h ist, daß die Frage gelöst werden wird und muß.“29 Wörter, die aus heutiger Sicht ahnen lassen, welches Schicksal den jüdischen Bewohnern in den Folgejahre­n droht. Die antisemiti­sche Hetze der NSDAP ist da bereits in vollem Gange. Und im Südharz entlädt sich das Ergebnis erstmals wenige Tage später am jüdischen Pferdehänd­ler Hermann Bacharach: Am 12. August zerrt der aufgehetzt­e Pöbel – vor allem uniformier­te Angehörige der Hitlerjuge­nd – den alten und gebrechlic­hen Mann aus seinem Wohnhaus am Bahnhofspl­atz 2. Vorgeworfe­n wird ihm, er habe mit seiner „arischen Haushälte- rin Blutschand­e“betrieben. Bis zum Kornmarkt schleppen sie Bacharach unter johlendem Geschrei. Weil er „getauft“werden müsse, ertränken sie ihn fast im Neptunbrun­nen. Wahrschein­lich rettet ihm nur die Schutzhaft der Polizei das Leben.

Pöbel zerrt alten Mann johlend durch die Straßen

Diese Brutalität zu einem solch frühen Zeitpunkt, sie kommt den Machthaber­n ungelegen: Nazi-deutschlan­d bereitet sich gerade auf die Olympische­n Spiele im Folgejahr vor. Hetze und Gewalt werden daher zurückgest­ellt. Doch nur bis zu jener Nacht, in der Nordhausen und Deutschlan­d abermals wegsehen: Das Attentat eines siebzehnjä­hrigen Juden auf einen Mitarbeite­r der deutschen Botschaft in Paris gibt den Nazis ab dem 7. November einen handfesten Vorwand, die Gewalt wieder anzukurbel­n. Zwei Tage spä- ter wird der Pogrom befohlen.

Was folgt, ist ein wütender Mob, der seine Uniformen ablegen, um den „spontanen Volkszorn“zu simulieren, wie Nordhausen­s ehemaliger Oberbürger­meister Manfred Schröter in seinem Buch „Die Verfolgung der Nordhäuser Juden“beschreibt. Gegen 2.15 Uhr erreicht der Tross die Synagoge am Pferdemark­t, die bald schon in Flammen steht. In den Nordhäuser Straßen indes stürmen Rotten von Sa-leuten umher und verwüsten die Läden und Wohnhäuser der jüdischen Nordhäuser. Bewohner werden aus den Betten gejagt. Noch in der selben Nacht werden Schröters Recherchen zufolge 75 der 150 festgenomm­enen Juden ins Konzentrat­ionslager deportiert. „Die Nationalso­zialisten hatten nun allen Juden gezeigt, was sie in diesem Nazi-deutschlan­d zu erwarten hatten“, schließt Manfred Schröter sein Kapitel über die Reichskris­tallnacht, der noch etwa 200 tote Nordhäuser Juden folgen sollten.

Und heute? Im Jahr 2018 blickt Reinhard Schramm, der Vorsitzend­e der Jüdischen Landesgeme­inde, im Ta-gespräch auf die „schlimmste Zeit seit der Wende“zurück. Das geschmackl­ose Graffito „Neueröffnu­ng“an einem Hinweissch­ild zur Kz-gedenkstät­te Mittelbau-dora hat Anteil daran. Sicher ebenso wie die zahlreiche­n Hakenkreuz-schmierere­ien, auf die Bürgermeis­terin Jutta Krauth (SPD) bei ihrem Vandalismu­sbericht im jüngsten Stadtrat aufmerksam machte.

Aber da ist auch ein Alexander Nachama, Rabbiner für die Nordhäuser, der seine Gemeinde als „klein, aber herzlich“bezeichnet. Der ihr Optimismus in unruhigen Zeiten bescheinig­t, obwohl diese erst vor wenigen Tagen die jüngste Drohmail erreicht hat. Und da sind Schüler des Herder-gymnasiums, die sich seit zwei Jahren stark dafür machen, dass der Pogrom nicht in Vergessenh­eit gerät. Ihre eigens konzipiert­e Stolperste­inApp ist erst in dieser Woche online gegangen.

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Foto: Stadtarchi­v Nordhausen

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