Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Der Tag, an dem Nordhausen wegsah
Im Südharz brach der Judenhass früh aus. Heute gibt es wieder eine kleine Gemeinde und Projekte gegen das Vergessen
Am Morgen des . November blicken Schaulustige auf die ausgebrannte Synagoge in Nordhausen. Nordhausen. Es sind erschreckende Zeilen, die die Leser der „Allgemeinen Zeitung“am 5. August 1935 zu lesen bekommen: „Eine Frage, die heute die ganze Welt bewegt, ist die Judenfrage. Die Stadt Nordhausen ist überzeugt, eben weil sie nationalsozialistisch ist, daß die Frage gelöst werden wird und muß.“29 Wörter, die aus heutiger Sicht ahnen lassen, welches Schicksal den jüdischen Bewohnern in den Folgejahren droht. Die antisemitische Hetze der NSDAP ist da bereits in vollem Gange. Und im Südharz entlädt sich das Ergebnis erstmals wenige Tage später am jüdischen Pferdehändler Hermann Bacharach: Am 12. August zerrt der aufgehetzte Pöbel – vor allem uniformierte Angehörige der Hitlerjugend – den alten und gebrechlichen Mann aus seinem Wohnhaus am Bahnhofsplatz 2. Vorgeworfen wird ihm, er habe mit seiner „arischen Haushälte- rin Blutschande“betrieben. Bis zum Kornmarkt schleppen sie Bacharach unter johlendem Geschrei. Weil er „getauft“werden müsse, ertränken sie ihn fast im Neptunbrunnen. Wahrscheinlich rettet ihm nur die Schutzhaft der Polizei das Leben.
Pöbel zerrt alten Mann johlend durch die Straßen
Diese Brutalität zu einem solch frühen Zeitpunkt, sie kommt den Machthabern ungelegen: Nazi-deutschland bereitet sich gerade auf die Olympischen Spiele im Folgejahr vor. Hetze und Gewalt werden daher zurückgestellt. Doch nur bis zu jener Nacht, in der Nordhausen und Deutschland abermals wegsehen: Das Attentat eines siebzehnjährigen Juden auf einen Mitarbeiter der deutschen Botschaft in Paris gibt den Nazis ab dem 7. November einen handfesten Vorwand, die Gewalt wieder anzukurbeln. Zwei Tage spä- ter wird der Pogrom befohlen.
Was folgt, ist ein wütender Mob, der seine Uniformen ablegen, um den „spontanen Volkszorn“zu simulieren, wie Nordhausens ehemaliger Oberbürgermeister Manfred Schröter in seinem Buch „Die Verfolgung der Nordhäuser Juden“beschreibt. Gegen 2.15 Uhr erreicht der Tross die Synagoge am Pferdemarkt, die bald schon in Flammen steht. In den Nordhäuser Straßen indes stürmen Rotten von Sa-leuten umher und verwüsten die Läden und Wohnhäuser der jüdischen Nordhäuser. Bewohner werden aus den Betten gejagt. Noch in der selben Nacht werden Schröters Recherchen zufolge 75 der 150 festgenommenen Juden ins Konzentrationslager deportiert. „Die Nationalsozialisten hatten nun allen Juden gezeigt, was sie in diesem Nazi-deutschland zu erwarten hatten“, schließt Manfred Schröter sein Kapitel über die Reichskristallnacht, der noch etwa 200 tote Nordhäuser Juden folgen sollten.
Und heute? Im Jahr 2018 blickt Reinhard Schramm, der Vorsitzende der Jüdischen Landesgemeinde, im Ta-gespräch auf die „schlimmste Zeit seit der Wende“zurück. Das geschmacklose Graffito „Neueröffnung“an einem Hinweisschild zur Kz-gedenkstätte Mittelbau-dora hat Anteil daran. Sicher ebenso wie die zahlreichen Hakenkreuz-schmierereien, auf die Bürgermeisterin Jutta Krauth (SPD) bei ihrem Vandalismusbericht im jüngsten Stadtrat aufmerksam machte.
Aber da ist auch ein Alexander Nachama, Rabbiner für die Nordhäuser, der seine Gemeinde als „klein, aber herzlich“bezeichnet. Der ihr Optimismus in unruhigen Zeiten bescheinigt, obwohl diese erst vor wenigen Tagen die jüngste Drohmail erreicht hat. Und da sind Schüler des Herder-gymnasiums, die sich seit zwei Jahren stark dafür machen, dass der Pogrom nicht in Vergessenheit gerät. Ihre eigens konzipierte StolpersteinApp ist erst in dieser Woche online gegangen.