Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Antisemitismus ist noch immer ein deutsches Thema. Ein Essay zum Jahrestag der Pogromnacht vom 9. November 1938
Zu „uns“? Wer sind „wir“und wenn ja: Warum? So wie das Judentum die historische und theologische Voraussetzung des Christentums ist, so sind der Antisemitismus, der Antijudaismus, die ständigen Begleiter des Christentums. Zu manchen Zeiten in schriller Grellheit, zu anderen als leises Hintergrundrauschen.
Luther und Wagner, Voltaire und H. G. Wells. Der jüdische Publizist Moritz Goldstein schrieb 1912 in der sogenannten Kunstwart-debatte: „Wir Juden, unter uns, mögen den Eindruck haben, als sprächen wir als Deutsche zu Deutschen – wir haben den Eindruck. Aber mögen wir uns immerhin ganz deutsch fühlen, die anderen fühlen uns ganz undeutsch.“Gilt das noch immer?
Anders als in anderen Ländern, Polen etwa und Ungarn, ist Antisemitismus in Deutschland ein moralisches Tabu, die gesellschaftlichen Eliten sind frei davon. Niemand der – außerhalb der AFD, wo man es immerhin riskieren kann, – an seinem Fortkommen interessiert ist, würde einen antisemitischen Ausfall riskieren. Das ist nicht nur Druck, es ist, mindestens überwiegend, eine Haltung.
Aber auf deutschen Schulhöfen gilt „Du Jude“, gebraucht gegenüber Nicht-juden, inzwischen als Schimpfwort. Dem
Wort „Jude“hat noch immer eine Aura, die es für viele in eine Reihe stellt mit diskriminierenden Bezeichnungen wie „Zigeuner“und „Neger“.
Diesem Umstand verdankt sich die hilflose, wiewohl gut gemeinte Konstruktion der „Mitbürger jüdischen Glaubens“– obgleich ein Mensch nicht dem jüdischen Glauben anhängen muss, um Jude zu sein. Der Umstand belegt die Hypothek, mit der dieses Deutschland, man mag das wollen oder nicht, noch immer belastet ist. Und das Unbehagen an
dieser Last, die kaum ein jetzt Lebender zu verantworten hat, trägt wohl auch seinen Teil bei zu einer Offenheit für antisemitische Stereotype. So stimmten im Thüringen-monitor 26 Prozent der Aussage zu, „die Juden“würden ihre „Opferrolle“ausnutzen. Rechtsradikale Ansichten vertreten 20 Prozent – und 63 Prozent würden sich von einer Moschee in der Nachbarschaft gestört fühlen.
Das ist es, das ist es mindestens auch. Denn so verquer das klingen mag, die zunehmende Islam-feindlichkeit, eine Exklusivität beanspruchende Heimat-
liebe bereiten auch den Boden für Juden-feindlichkeit. Und das, obgleich mit der Migration vieler Muslime aus Ländern, in denen Antisemitismus eine Art kultureller Grundausstattung bildet, zweifelsfrei auch Antisemitismus einwandert, der allerdings weniger aktiv ist als der der Deutschen.
Die zunehmend gesellschaftsfähige Islamfeindlichkeit bereitet auch den Boden für den noch nicht gesellschaftsfähigen Antisemitismus: indem der grundlegende Respekt für eine fremde Kultur nicht mehr selbstverständlich ist, indem Handlun- gen einzelner Individuen, Gruppen oder Staaten, das gilt vornehmlich für Israel, jedem Angehörigen einer Religion oder Ethnizität angerechnet werden. Die im Zusammenhang mit der Migration radikal gesunkene Hemmschwelle im öffentlichen Raum, nicht nur in den sozialen Medien, bereitet auch den Boden für eine hemmungsfreie Rhetorik gegenüber allen ethnischen und religiösen Gruppen.
Die institutionalisierte Wegbereiterin dieser Hemmungslosigkeit ist die AFD. Deren widerwärtiger Lautsprecher Höcke fordert eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“und sieht im Berliner Holocaust Mahnmal ein die deutsche Glorie verdunkelndes „Denkmal der Schande“, die Landesverbände tun sich schwer, eine klare Haltung zu Antisemiten wie Wolfgang Gedeon zu finden – und zugleich instrumentalisiert diese Partei den Antisemitismus vieler Muslime, um sich als Beschützer der Juden zu gerieren.
So ist, wer diese Partei wählt, selbstverständlich kein Neo-nazi – die AFD ist nicht die NPD, aber er unterstützt, gewollt oder nicht, ein Klima, in dem Fremdenfeindlichkeit jeder Couleur gesellschaftsfähig wird. Und ein Staat, der sein Gewaltmonopol nicht konsequent durchsetzt und Verstöße jeder Art entsprechend sanktioniert, dessen Ge- richte nicht alles, was das Gesetz hergibt, armieren gegen Rechtsextremismus, der tut das auch.
Gerichte, die wie in Thüringen, Auflagen für rechtsradikale Konzerte kippen. Und eine Landesregierung, deren linker Ministerpräsident die Einrichtung eines Antisemitismusbeauftragten, anders als etwa Hessen, Berlin, Rheinland-pfalz, Bayern oder BadenWürttemberg und nächstens Sachsen-anhalt, ablehnt, gibt Anlass zu der Frage, ob Teile der linken Basis, anders als Bodo Ramelow, zwischen berechtigter Israelkritik und Antisemitismus zu unterscheiden gewillt sind. Aber das vermögen auch manche Gerichte nicht. Zwei Instanzen in Wuppertal konnten in dem Brandanschlag auf eine Synagoge keinen Antisemitismus erkennen, lediglich Kritik an Israel. Was bedeutet, dass die Handlungen des Staates Israel im Namen des deutschen Volkes auf hier lebende Juden und ihre religiöse Stätte angerechnet wurden.
Der zu Beginn erwähnte Oliver Polak fragt in seinem Buch „Was unterscheidet das Wort Jude von Christ, Moslem oder Buddhist?“Acht Jahrzehnte nach der Pogromnacht des 9. November 1938 ist das noch immer eine deutsche Frage. Auf die eine oder andere Weise.