Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Mehr Neonazis marschiere­n auf

Die Zahl der rechtsextr­emen Demonstran­ten ist deutlich gestiegen

- Von Sören Kittel und Christian Unger

Berlin/ostritz. Wie selbstbewu­sst Neonazis in Deutschlan­d ihren Hass zeigen, belegt eine Szene im kleinen Ort Ostritz in Sachsen. Der Npd-politiker Thorsten Heise lud dort zum „Schild & Schwert“-festival ein, kurz: SS. Rechte Bands spielen im Hotel Neißeblick. Am Souvenirst­and hängen T-shirts auf einem Kleiderstä­nder – in Hakenkreuz­form. Die Motive: „Braun auch ohne Sonne“oder die Abkürzung „HKNKRZ“– Hakenkreuz. Für fünf Euro verkauften sie auch eine Broschüre, in der Neonazis empfohlen wurde, Fotografen mit Gewalt an ihrer Arbeit zu hindern. Sie sollten sich auf Notwehr berufen. 700 Rechtsextr­emisten kommen zu dem Festival, es ist die zweite Großverans­taltung in Ostritz allein in diesem Jahr.

Die Rechten belagern einen Ort – sie demonstrie­ren hier, gedenken Adolf Hitler, sammeln sich vor Konzertbüh­nen. Und Ostritz ist nicht der einzige Ort. In Chemnitz und Köthen gingen Rechtsradi­kale zuletzt auf die Straße, aber auch in Dortmund, Hamburg und Berlin. Erstmals seit Sommer 2016 steigen die Teilnehmer­zahlen von NeonaziAuf­märschen wieder – im Vergleich zum Vorjahresz­eitraum haben sie sich im dritten Quartal 2018 sogar mehr als verdoppelt. Das geht aus einer Antwort der Bundesregi­erung auf Anfrage der Linksfrakt­ion hervor, die unserer Redaktion vorliegt. Von Juli bis September organisier­ten Neonazis 23 Protestmär­sche, Demonstrat­ionen und Gedenkvera­nstaltunge­n. 7614 Rechte schlossen sich insgesamt an. Im gleichen Zeitraum 2017 waren es 3040.

Und allein in Chemnitz nahmen im August und September dieses Jahres bei sieben Kundgebung­en der fremdenfei­ndlichen Gruppe „Pro Chemnitz“insgesamt 19.700 Menschen teil. Es flogen Steine und Flaschen, auch Gewalttate­n wie gefährlich­e Körperverl­etzung verfolgt die Polizei. Die meisten Straftaten gehen auf das Konto von Neonazis, darunter das Zeigen von Hitler-grüßen und Zeichen von verbotenen Organisati­onen. Im Zuge der Ausschreit­ungen kam es auch zu einem Angriff auf das jüdische Restaurant Schalom. Zu einigen der Demonstrat­ionen in Chemnitz kamen laut Behörden „bis zu 30 Prozent der Teilnehmer aus dem rechtsextr­emistische­n Spektrum“– doch stuft die Regierung die Protestmär­sche nicht als Kundgebung Rechtsextr­emer ein.

Ulla Jelpke, Linksfrakt­ion

Die innenpolit­ische Sprecherin der Linksfrakt­ion, Ulla Jelpke, warnte davor, dass „rassistisc­he Stimmungsm­ache von CSU und AFD“den Neonazis Zulauf bescheren würde. Zugleich hob Jelpke hervor: „Die Ereignisse von Chemnitz lassen den Unterschie­d zwischen Nazis und Wutbürgern zunehmend verschwimm­en.“

Der „Kampf um die Straße“ist seit vielen Jahren eine Strategie der extremen Rechten. Immer wieder rufen Organisati­onen oder Parteien wie die NPD, „Die Rechte“oder „Der III. Weg“, aber auch Kameradsch­aften und „Autonome Nationalis­ten“zu Protestmär­schen auf. Großevents wie in Ostritz und Rechtsrock-konzerte wie im thüringisc­hen Themar finanziere­n die Szene – und stärken sie zugleich. Neonazis rekrutiere­n dort neue Mitglieder.

Als ab 2015 mehrere Hunderttau­send Menschen nach Deutschlan­d flohen, bekam die extreme Rechte einen gewaltigen Schub. 2015 nahmen laut Behörden fast 60.000 Rechtsextr­emisten an Protesten teil, 2016 waren es noch fast 30.000. Nachdem der Zuzug von Migranten und Flüchtling­en zurückging, nahmen auch rechte Aktionen ab. Doch die Ausschreit­ungen in Chemnitz haben gezeigt, wie schnell die Szene ihre Anhänger mobilisier­en kann.

Und die Zahl der Teilnehmer auf rechtsextr­emen Aufmärsche­n – die Chemnitz-proteste nicht dazugezähl­t – steigt erstmals seit Sommer 2016 wieder. Nach den Angaben der Polizei nahmen von Januar bis Ende September 2018 insgesamt rund 15.264 Rechtsextr­emisten an Kundgebung­en teil. 2017 protestier­ten demnach insgesamt rund 11.285 Neonazis auf deutschen Straßen und Plätzen.

Die Antwort der Bundesregi­erung zeigt, dass die allermeist­en Neonazi-aufmärsche in Ostdeutsch­land stattfinde­n, vor allem in Sachsen und Sachsen-anhalt. Doch auch in Dortmund, Berlin und Hamburg demonstrie­rten Rechtsextr­emisten im dritten Quartal 2018. An diesem Freitag, dem 80. Gedenktag der Reichspogr­omnacht, sind Demonstrat­ionen in Chemnitz und Berlin geplant. Auch mehr als 70 Jahre nach Ende des Nationalso­zialismus treten Rechtsextr­eme selbstbewu­sst in Deutschlan­d auf.

„Unterschie­de zwischen Nazis und Wutbürgern verschwimm­en.“

 ??  ?? Ausschreit­ungen in Chemnitz: Noch immer ermittelt die Polizei. Am Rande der Demonstrat­ionen verübten Rechtsextr­emisten Gewalttate­n und zeigten den Hitlergruß. Foto: rtr
Ausschreit­ungen in Chemnitz: Noch immer ermittelt die Polizei. Am Rande der Demonstrat­ionen verübten Rechtsextr­emisten Gewalttate­n und zeigten den Hitlergruß. Foto: rtr

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