Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Geborgenheit in unruhigen Zeiten
Jüdische Gemeinde in Nordhausen bleibt bewusst unauffällig. Drohungen erreichen sie dennoch
Nordhausen. „Stolpern erwünscht! Auch digital?“Zwei Jahre nach dieser provokanten Frage vier junger Nordhäuser steht die Antwort fest: Stolpern ist auch im Internet erwünscht. Und nicht nur das: Seit dieser Woche ist es sogar möglich. Beantwortet worden ist sie durch das Bundesprogramm „Demokratie leben!“. Das hat den ehemaligen Herder-gymnasiasten Viktoriya Dorofeeva, Anny-katharina Samel, Hannes Gerstenberger und Florian Sickert ein Folgeprojekt ihrer wissenschaftlichen Seminarfacharbeit über die Stolpersteine zum Gedenken an das Schicksal der jüdischen Bürger Nordhausens gefördert. Das Ergebnis ihrer Mühen und langwierigen Recherchen – die App „Stolpersteine Südharz – ist seit wenigen Tagen im Google Play Store und im Apple App Store verfügbar.
Die Anwendung für internetfähige Geräte wie Smartphone und Tablet berichtet ausführlich über die Schicksale der Opfer des Ns-regimes in Nordhausen. „Aber auch eine Erweiterung um Orte der Judenverfolgung wie Bleicherode und Ellrich ist in naher Zukunft geplant“, erklärt Heike Roeder den weiter gefassten Namen der App. Die Geschichts- und Deutschlehrerin am Herder-gymnasium hatte ihre vier Schüler einst auf das Thema um die kleinen, durch den Künstler Gunter Demnig initiierten Gedenktafeln, gebracht, hat es mit ihnen immer weiter fortentwickelt. Über die Recherchezeit und weit darüber hinaus stand Heike Roeder den Jugendlichen zur Seite.
Und noch heute ist sie voll des Lobes über ihre Schützlinge. „Sehr engagiert“seien sie ans Werk gegangen, „hätten so viel nebenbei gemacht, das war schon enorm“, schwärmt sie über die Arbeiten im Stadtarchiv oder Hintergrundgespräche mit Nordhausens ehemaligem Oberbürgermeister Man- fred Schröter oder mit Entwicklern wie Sebastian Ziegler und dem Grafiker Steffen Mund.
Mit Hilfe seiner Agentur „Plusgrad“ist eine App herausgekommen, die durch die Verbindung aus detaillierten Informationen, historischem Fotomaterial und realen Orten Geschichte erlebbar macht. Denn die App navigiert ihre Nutzer zu bislang 24 der 34 gesetzten Stolpersteine in der Rolandstadt, die übrigen sollen folgen. „Ich bin ein aufmerksamer Mensch, der oft auch auf den Boden schaut. Aber die Steine sind mir vor dem Projekt nie aufgefallen, auch wenn ich vielleicht 100 Mal darüber gelaufen bin“, berichtet Viktoriya Dorofeeva über ihre Erfahrungen von einst. Mit ihren ehemaligen Mitschülern will sie das nun ändern, möchte Nordhausen. Als „klein, aber herzlich“bezeichnet Alexander Nachama, Rabbiner der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen, das jüdische Leben in Nordhausen. 20 Mitglieder sind in der hiesigen Gemeinde Schalom aktiv. Rechnet man deren Familienangehörige und Verwandte hinzu, haben etwa 90 Menschen in der Stadt einen Bezug zum jüdischen Glauben. Zu Beginn der Ns-diktatur war die Jüdische Gemeinde Nordhausen noch mehr als viermal so groß.
Dass es heute überhaupt wieder jüdisches Leben im Südharz gibt, ist Zuwanderern aus Russland, Weißrussland, der Ukraine und Kirgisistan zu verdanken. Vorrangig in den Jahren den Südharzern und ihren Gästen Einblicke in die Schicksale ermöglichen und an sie erinnern. Denn die App verrät Details aus den Biografien der Opfer des Faschismus und zu ihren Schicksalen. Um dies auch Gästen aus anderen Ländern zu ermöglichen, werden bald auch Erweiterungen der App in englischer und niederländischer Sprache aufgespielt, verrät Steffen Mund, der in den kommenden Tagen mit kleinen Updates noch letzte Kinderkrankheiten des Programms ausmerzen wird.
Ein besonderes Highlight für Anwender ist allerdings schon jetzt aktiv: Wer 12 Stolpersteine erkundet hat, für den schaltet sich in der App eine Zusatzkarte von 1936 frei, die weitere spannende Details aus der Historie Nordhausens bereithält. zwischen 1999 und 2010 kamen sie in den Südharz. Seit 2003 existiert erstmals seit der systematischen Vernichtung jüdischen Lebens mit der Gründung der Gemeinde Schalom wieder ein Glaubenszentrum in Nordhausen.
Im Thomas-mann-haus wird alle zwei Wochen der Sabbat gefeiert, jeden zweiten Monat wird Rabbi Nachama die Gemeinde besuchen. Ansonsten findet hier klassische Gemeindearbeit statt, eine Mitarbeiterin hilft als Dolmetscherin bei Amtsterminen und Arztbesuchen oder gibt eine Beratung in vielen Lebensfragen. Hinzu kommt eine ehrenamtliche Krankenpflege. Eine kleine Bibliothek existiert ebenfalls in den Gemeinderäumen. Darüber hinaus tritt die Ge- meinde nur selten in Erscheinung, was auch daran liegt, dass die Gläubigen mit Verunsicherung und Angst auf aktuelle Entwicklungen reagieren.
Nachdem beispielsweise im Jahr 2007das Haus des örtlichen Vorsitzenden mit Ns-symbolen beschmiert wurde, habe sich in den vergangenen Jahren eine gewisse Ruhe eingestellt, erklärt die Mitarbeiterin von Schalom. Vor wenigen Tagen ging jedoch eine Drohmail ein. Die Gläubigen würden „mit in Thüringen lebenden Menschen weiter Krieg“führen, heißt es in dem Schreiben. „Euch Schmarotzer werde ich schon los“, folgt als eindeutige Drohung. Deswegen wollen die Gläubigen auch anonym bleiben.
Vorfälle wie diese überra- schen Alexander Nachama nicht. „Neu ist dabei allerdings die Offenheit, mit der sich viele antisemitisch äußern. Briefe werden zum Beispiel mit Klarnamen versehen“, stellt der Rabbiner fest.
„Wir bleiben optimistisch“, heißt es von der Gemeinde. Jedoch gibt es neben antisemitischen Anfeindungen noch ein weiteres Problem: Das Durchschnittsalter der Gläubigen liegt bei über 60 Jahren. Viele der jungen Nordhäuser Juden zieht es in größere Städte. Doch auch diesem Trend will sich die Gemeinde nicht ergeben. „Wir existieren und machen, was wir können“, lautet der Tenor. Schließlich solle die jüdische Tradition in Nordhausen eine lange Zukunft haben.