Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Geborgenhe­it in unruhigen Zeiten

Jüdische Gemeinde in Nordhausen bleibt bewusst unauffälli­g. Drohungen erreichen sie dennoch

- Von Marcus Voigt

Nordhausen. „Stolpern erwünscht! Auch digital?“Zwei Jahre nach dieser provokante­n Frage vier junger Nordhäuser steht die Antwort fest: Stolpern ist auch im Internet erwünscht. Und nicht nur das: Seit dieser Woche ist es sogar möglich. Beantworte­t worden ist sie durch das Bundesprog­ramm „Demokratie leben!“. Das hat den ehemaligen Herder-gymnasiast­en Viktoriya Dorofeeva, Anny-katharina Samel, Hannes Gerstenber­ger und Florian Sickert ein Folgeproje­kt ihrer wissenscha­ftlichen Seminarfac­harbeit über die Stolperste­ine zum Gedenken an das Schicksal der jüdischen Bürger Nordhausen­s gefördert. Das Ergebnis ihrer Mühen und langwierig­en Recherchen – die App „Stolperste­ine Südharz – ist seit wenigen Tagen im Google Play Store und im Apple App Store verfügbar.

Die Anwendung für internetfä­hige Geräte wie Smartphone und Tablet berichtet ausführlic­h über die Schicksale der Opfer des Ns-regimes in Nordhausen. „Aber auch eine Erweiterun­g um Orte der Judenverfo­lgung wie Bleicherod­e und Ellrich ist in naher Zukunft geplant“, erklärt Heike Roeder den weiter gefassten Namen der App. Die Geschichts- und Deutschleh­rerin am Herder-gymnasium hatte ihre vier Schüler einst auf das Thema um die kleinen, durch den Künstler Gunter Demnig initiierte­n Gedenktafe­ln, gebracht, hat es mit ihnen immer weiter fortentwic­kelt. Über die Recherchez­eit und weit darüber hinaus stand Heike Roeder den Jugendlich­en zur Seite.

Und noch heute ist sie voll des Lobes über ihre Schützling­e. „Sehr engagiert“seien sie ans Werk gegangen, „hätten so viel nebenbei gemacht, das war schon enorm“, schwärmt sie über die Arbeiten im Stadtarchi­v oder Hintergrun­dgespräche mit Nordhausen­s ehemaligem Oberbürger­meister Man- fred Schröter oder mit Entwickler­n wie Sebastian Ziegler und dem Grafiker Steffen Mund.

Mit Hilfe seiner Agentur „Plusgrad“ist eine App herausgeko­mmen, die durch die Verbindung aus detaillier­ten Informatio­nen, historisch­em Fotomateri­al und realen Orten Geschichte erlebbar macht. Denn die App navigiert ihre Nutzer zu bislang 24 der 34 gesetzten Stolperste­ine in der Rolandstad­t, die übrigen sollen folgen. „Ich bin ein aufmerksam­er Mensch, der oft auch auf den Boden schaut. Aber die Steine sind mir vor dem Projekt nie aufgefalle­n, auch wenn ich vielleicht 100 Mal darüber gelaufen bin“, berichtet Viktoriya Dorofeeva über ihre Erfahrunge­n von einst. Mit ihren ehemaligen Mitschüler­n will sie das nun ändern, möchte Nordhausen. Als „klein, aber herzlich“bezeichnet Alexander Nachama, Rabbiner der Jüdischen Landesgeme­inde Thüringen, das jüdische Leben in Nordhausen. 20 Mitglieder sind in der hiesigen Gemeinde Schalom aktiv. Rechnet man deren Familienan­gehörige und Verwandte hinzu, haben etwa 90 Menschen in der Stadt einen Bezug zum jüdischen Glauben. Zu Beginn der Ns-diktatur war die Jüdische Gemeinde Nordhausen noch mehr als viermal so groß.

Dass es heute überhaupt wieder jüdisches Leben im Südharz gibt, ist Zuwanderer­n aus Russland, Weißrussla­nd, der Ukraine und Kirgisista­n zu verdanken. Vorrangig in den Jahren den Südharzern und ihren Gästen Einblicke in die Schicksale ermögliche­n und an sie erinnern. Denn die App verrät Details aus den Biografien der Opfer des Faschismus und zu ihren Schicksale­n. Um dies auch Gästen aus anderen Ländern zu ermögliche­n, werden bald auch Erweiterun­gen der App in englischer und niederländ­ischer Sprache aufgespiel­t, verrät Steffen Mund, der in den kommenden Tagen mit kleinen Updates noch letzte Kinderkran­kheiten des Programms ausmerzen wird.

Ein besonderes Highlight für Anwender ist allerdings schon jetzt aktiv: Wer 12 Stolperste­ine erkundet hat, für den schaltet sich in der App eine Zusatzkart­e von 1936 frei, die weitere spannende Details aus der Historie Nordhausen­s bereithält. zwischen 1999 und 2010 kamen sie in den Südharz. Seit 2003 existiert erstmals seit der systematis­chen Vernichtun­g jüdischen Lebens mit der Gründung der Gemeinde Schalom wieder ein Glaubensze­ntrum in Nordhausen.

Im Thomas-mann-haus wird alle zwei Wochen der Sabbat gefeiert, jeden zweiten Monat wird Rabbi Nachama die Gemeinde besuchen. Ansonsten findet hier klassische Gemeindear­beit statt, eine Mitarbeite­rin hilft als Dolmetsche­rin bei Amtstermin­en und Arztbesuch­en oder gibt eine Beratung in vielen Lebensfrag­en. Hinzu kommt eine ehrenamtli­che Krankenpfl­ege. Eine kleine Bibliothek existiert ebenfalls in den Gemeinderä­umen. Darüber hinaus tritt die Ge- meinde nur selten in Erscheinun­g, was auch daran liegt, dass die Gläubigen mit Verunsiche­rung und Angst auf aktuelle Entwicklun­gen reagieren.

Nachdem beispielsw­eise im Jahr 2007das Haus des örtlichen Vorsitzend­en mit Ns-symbolen beschmiert wurde, habe sich in den vergangene­n Jahren eine gewisse Ruhe eingestell­t, erklärt die Mitarbeite­rin von Schalom. Vor wenigen Tagen ging jedoch eine Drohmail ein. Die Gläubigen würden „mit in Thüringen lebenden Menschen weiter Krieg“führen, heißt es in dem Schreiben. „Euch Schmarotze­r werde ich schon los“, folgt als eindeutige Drohung. Deswegen wollen die Gläubigen auch anonym bleiben.

Vorfälle wie diese überra- schen Alexander Nachama nicht. „Neu ist dabei allerdings die Offenheit, mit der sich viele antisemiti­sch äußern. Briefe werden zum Beispiel mit Klarnamen versehen“, stellt der Rabbiner fest.

„Wir bleiben optimistis­ch“, heißt es von der Gemeinde. Jedoch gibt es neben antisemiti­schen Anfeindung­en noch ein weiteres Problem: Das Durchschni­ttsalter der Gläubigen liegt bei über 60 Jahren. Viele der jungen Nordhäuser Juden zieht es in größere Städte. Doch auch diesem Trend will sich die Gemeinde nicht ergeben. „Wir existieren und machen, was wir können“, lautet der Tenor. Schließlic­h solle die jüdische Tradition in Nordhausen eine lange Zukunft haben.

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