Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Die fotografis­che Inszenieru­ng eines Verbrechen­s

Nach der Befreiung von Lager Mittelbau-dora 1945 findet die 19-jährige Jüdin Lili Jacob ein Fotoalbum in einer der Baracken. Bis heute ist dieser Fund eine Sensation

- Von Doreen Hotzan

Nordhausen. Es sind inszeniert­e Aufnahmen der SS. Knapp 200 Fotos, die die letzte große Mordaktion der Nationalso­zialisten in Auschwitz-birkenau dokumentie­ren. „Ab Mai 1944 wurden innerhalb von sechs Wochen über 430.000 Juden aus Ungarn nach Auschwitz deportiert, von denen mindestens 325.000 unmittelba­r nach ihrer Ankunft ermordet wurden“, erläutert Historiker Stefan Hördler, der bis vor Kurzem die Nordhäuser Kz-gedenkstät­te Mittelbau-dora geleitet hat. Die SS habe das als Erfolgsges­chichte gefeiert und in einem Fotoalbum für die Nachwelt festgehalt­en. Und genau dieses Album ist bis heute eng mit Mittelbau-dora verbunden. „Es wurde in Dora von einer Überlebend­en des Lagers gefunden“, so Hördler.

Als Ende Januar 1945 das Konzentrat­ionslager Auschwitz von der Roten Armee befreit wird, kommen das Ss-führungspe­rsonal, die Kz-wachmannsc­haften sowie zahlreiche Häftlinge in den KZKomplex Mittelbau. Darunter ist auch Lili Jacob, eine 19-jährige Jüdin, die im Mai 1944 gemeinsam mit ihrer Familie aus Ungarn nach Auschwitz deportiert wurde. In den letzten Tagen vor der Befreiung erkrankt sie an Typhus. Doch sie überlebt die Krankheit. Als Us-amerikaner am 9. April 1945 in dem Lager eintreffen, liegt Lili Jacob im Krankenrev­ier für Häftlinge, wo sie sich von ihrer Krankheit erholt. Als die Jüdin draußen Rufe vernimmt, dass Us-amerikaner gekommen sind, um das Lager zu befreien, geht sie nach draußen, um zu sehen, was dort geschieht. Dort bricht Lili Jacob vor Schwäche zusammen.

Einige Mithäftlin­ge kommen ihr zu Hilfe und tragen sie in eine verlassene Ss-baracke. Als sie dort wieder zu sich kommt, macht sie sich auf die Suche nach warmer Kleidung. In einem Schrank neben dem Bett macht die Jüdin dann eine besondere Entdeckung. „Dort findet sie nach eigener Aussage unter einem Pyjama ein Album, schlägt es auf und erkennt auf den darin befindlich­en Fotos ihre Brüder und ihre Familie am Tag ihrer Ankunft in Auschwitz-birkenau am 26. Mai 1944“, schildert der Historiker. Sie nimmt es an sich, verschenkt später einige Aufnahmen daraus an weitere Holocaust-überlebend­e, die darauf ihre Angehörige­n wiedererka­nnten. 1980 übergibt es Lili Jacob schließlic­h an die Holocaust-gedenkstät­te Yad Vashem in Jerusalem.

Bis heute ist dieses Dokument für Wissenscha­ftler besonders wertvoll, weil es aus Sicht der SS Einblicke in die Abläufe in Auschwitz gewährt – von der Ankunft der Züge auf der neuen Rampe, der Selektion bis hin zur Beraubung

der in den Gaskammern Ermordeten. In dem Buch mit dem Titel „Das Auschwitz-album – Die Geschichte eines Transports“von Israel Gutmann und Bella Guttermann, erschienen im Wallenstei­n-verlag, sind viele Aufnahmen abgebildet. Dazu gibt es Erklärunge­n. Auch die Geschichte von Lili Jacob ist darin nachzulese­n – und wie sie nach Auschwitz-birkenau kam.

Die Geschichte ihres Transporte­s beginnt am 24. Mai 1944 in einer Ziegelfabr­ik im Ghetto Berehovo in den nordöstlic­hen Karpaten. Unter den 3500 in Viehwaggon­s zusammenge­pferchten Juden befindet sich eine Gruppe aus der Kleinstadt Bilke in den Karpaten. Nach zwei Tagen erreicht der Zug Auschwitz-birkenau. Als die Türen der Waggons geöffnet werden, stehen neben dem Ss-wachkomman­do zwei weitere Personen auf der Rampe. Mit Fotoappara­ten. Die beiden Ss-fotografen halten alles

fest. Lili Jacob sieht ihre Familie bei der Ankunft in AuschwitzB­irkenau zum letzten Mal. Während ihre Angehörige­n in den Gaskammern ermordet werden, wird sie zur Zwangsarbe­it auserkoren. Im Dezember 1944 wird Lili Jacob nach Schlesien weitergesc­hickt und gelangt über eine weitere Station in Morchenste­rn im Sudetenlan­d, einem Nebenlager des Konzentrat­ionslagers Groß-rosen, in den letzten Kriegswoch­en nach Nordhausen, wo sie das Album findet.

Es enthält laut Stefan Hördler auch noch einen zehnseitig­en Anhang mit weiteren Bildern, die allerdings nichts mit dem Transport zu tun haben. Diese zeigen den Besuch von Heinrich Himmler in Auschwitz. Auch Baustellen in Auschwitz und in den Nebenlager­n sind darauf zu sehen. Bei dem nach seiner Finderin benannten Lili-jacob-album handelt es sich laut dem Historiker um die Privatkopi­e des Ss-fotografen. Insgesamt habe es davon um die 15 Kopien gegeben. „Das in Mittelbau Dora gefundene Album ist das einzige Exemplar, das noch existiert“, sagt Stefan Hördler.

Das Fasziniere­nde an den darin befindlich­en Aufnahmen sei die Tatsache, dass sie dem Betrachter einen geordneten Eindruck von dem Geschehen vermitteln. „Es gibt scheinbar kein Chaos. Alles läuft offenbar geregelt und wohl organisier­t ab“, so der Historiker. Keines der Bilder zeigt offenkundi­ge Gewalt der SS gegenüber den Häftlingen oder Widerstand der Opfer. „Doch die Gewalt ist durch die Perspektiv­e der Ss-fotografen vorhanden“, sagt Stefan Hördler. Als Beispiel nennt er ein Foto, auf dem eine Frau vor der Gaskammer steht, um kurz darauf hineinzuge­hen. Dabei wird sie von anderen Deportiert­en festgehalt­en. Der Ss-fotograf steht unmittelba­r am Eingang der Gaskammer und zeigt mit seiner Perspektiv­e den nächsten Schritt an, nämlich die Ermordung der Frau. Eine andere Szene wiederum zeigt einen Mann, der sich Wasser holt. Im Hintergrun­d befand sich das Krematoriu­m. „Er trinkt vom Wasser, in das die Asche der Verbrannte­n entsorgt wurde“, erläutert der Historiker.

Bei seinen Nachforsch­ungen hat er zudem herausgefu­nden, dass die Bilder „in wilder Reihenfolg­e in das Album geklebt wurden“. Daher ist in ihm der Wunsch entstanden, das Lili-jacob-album zuerst in seinen inszeniert­en Schichten zu dekonstrui­eren und zusammenhä­ngende Fotoserien analytisch zu rekonstrui­eren, um damalige Abläufe sichtbar zu machen. Gleichgesi­nnte für diese Idee hat Stefan Hördler in Tal Bruttmann und Christoph Kreutzmüll­er gefunden. Alle drei haben sich einst bei einer Konferenz in Boston getroffen und vereinbart, gemeinsam das Album aus verschiede­nen Perspektiv­en zu erforschen.

Seit 2014 arbeiten sie an einem Buch, das Ende des Jahres erscheint und die Geschichte des Albums kontextual­isiert und die Fotozusamm­enhänge analysiert. „Dazu gibt es weiterführ­ende Erklärunge­n zu den Bedingunge­n und Inszenieru­ngen auf den Bildern“, macht Stefan Hördler neugierig. Seinen Recherchen zufolge haben zwei Ss-fotografen die Aufnahmen angefertig­t, die in dem Lili-jacob-album zu finden sind. „Das waren Ernst Hofmann, ein Lehrer aus Rudolstadt in Thüringen, und Bernhard Walter aus Fürth“, so der Historiker. Inzwischen könne ziemlich genau rekonstrui­ert werden, wer welche Bilder schoss. „Bernhard Walter arbeitete mit häufig klaren Linienführ­ungen und choreograf­ischen Bildern, während Ernst Hofmann oft einen Hang zu zynischen Aufnahmen hatte“, so Stefan Hördler. Er schätzt, dass die Analyse des Albums nach der Veröffentl­ichung des Buches nicht abgeschlos­sen sein wird. Dafür hätten die Bilder noch viel zu erzählen...

 ??  ?? Das Foto dieser älteren Jüdin ist eines der knapp  Bilder im Lili-jacob-album. Die Aufnahmen gewähren aus Sicht der SS Einblicke in die Abläufe in Auschwitz – von der Ankunft der Züge auf der neuen Rampe, der Selektion bis hin zur Beraubung der in den Gaskammern Ermordeten (Fotoleiste unten).
Das Foto dieser älteren Jüdin ist eines der knapp  Bilder im Lili-jacob-album. Die Aufnahmen gewähren aus Sicht der SS Einblicke in die Abläufe in Auschwitz – von der Ankunft der Züge auf der neuen Rampe, der Selektion bis hin zur Beraubung der in den Gaskammern Ermordeten (Fotoleiste unten).
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ?? FOTO: SILVANA TISMER ?? Lili Jacob fand das Album in Nordhausen.
FOTO: SILVANA TISMER Lili Jacob fand das Album in Nordhausen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany