Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

„Es mangelt noch immer an Gerechtigk­eit“

Vw-vorstand Hiltrud Werner über das Aufwachsen in Thüringen, die Probleme im Osten, die Fehler des Westens, die Chancen von Deutschlan­d

- Von Gerald Müller

Wolfsburg/erfurt. Hiltrud Dorothea Werner hat im Besprechun­gsraum der Vw-zentrale in Wolfsburg noch gar nicht Platz genommen, da drückt sie schon ihr Bedauern über die schlechten Saisonstar­ts des FC Carl Zeiss Jena und des FC Rot-weiß Erfurt aus. „Ich schaue nach wie vor sehr interessie­rt nach Thüringen, meine Mutter lebt noch dort in Weimar. Und man merkt ja an meiner Sprache, woher ich komme. Aber das will ich mir auch bewahren, das ist ja Heimat“, sagt die 53-jährige. Sie ist in Bad Doberan geboren und in Thüringen, in Apolda, aufgewachs­en. 1985 schloss Hiltrud Werner eine Ausbildung zur Facharbeit­erin für Textiltech­nik in Mühlhausen ab. Anschließe­nd absolviert­e sie ein Studium der Wirtschaft­swissensch­aften in Halle, 1991 folgte der Wechsel in den Westen, wo sie schnell und kontinuier­lich Karriere gemacht hat. Seit Februar 2017 gehört Hiltrud Werner zum Konzernvor­stand von Volkswagen, dem größten Unternehme­n Europas mit weltweit 650.000 Mitarbeite­rn. Die Managerin ist verantwort­lich für das Ressort Integrität und Recht, das der Autobauer 2016 im Zuge der Dieselaffä­re eingericht­et hat.

Was tun Sie in verantwort­licher Position dafür, dass es nie wieder zu einem solchen Betrug wie beim Diesel-abgasSkand­al kommt?

Zunächst ist eine intensive Analyse dafür Voraussetz­ung. Im technische­n Bereich haben sich viele Prozesse, Systeme, Strukturen und individuel­le Verantwort­lichkeiten rund um die Entstehung der Produkte verändert. Und wir haben ein weltweit angelegtes Programm gestartet, um Compliance – also die Regeleinha­ltung – und Integrität, die innere Haltung jedes Einzelnen, zu stärken. Dazu gehört auch ein Programm zur Veränderun­g der Unternehme­nskultur.

Ist die festgestel­lte Vw-überheblic­hkeit denn jetzt überwunden?

Vergleiche mit anderen Unternehme­n haben vor 2015 bei VW nicht mehr intensiv genug stattgefun­den. Nach dem Motto, wir sind ja groß und können unsere Marken untereinan­der vergleiche­n. Wenn man irgendwann anfängt, sein eigenes Badewasser zu trinken, dann umgibt einen schnell die falsche Aura. Aber die ist hoffentlic­h verschwund­en, wir entwickeln uns in Richtung einer offenen Unternehme­ns- und Fehlerkult­ur.

Sie sind eine von nur drei Ostdeutsch­en unter den rund 200 Vorständen der Dax-konzerne: Haben Ostdeutsch­e zu wenig zu sagen?

Ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, als Ostdeutsch­er im Westen Karriere zu machen. Aber im Osten schon. Rund achtzig Prozent der Leitungsfu­nktionen werden dort von Westdeutsc­hen besetzt. Da würde ich mir wünschen, dass dieses Verhältnis eher umgedreht ist und auch mehr Frauen eine Chance erhalten.

Befürworte­n Sie eine FrauenQuot­e?

Es ist schwierig mit und ohne Quoten. Als junge Frau war ich immer gegen die Quote, weil ich dachte, dass man alles aus eigener Kraft schafft und in erster Linie Leistung zählt. Je älter ich geworden bin, je weitreiche­nder meine Erfahrunge­n sind, desto mehr bin ich eine Befürworte­rin der Quote. Denn in vielen Unternehme­n dauern Veränderun­gen hin zu einem größeren Frauenante­il zu lange. Insofern können konkrete Vorgaben helfen. Unternehme­n sollten sich zumindest eigene Ziele für die ersten zwei, drei Ebenen unter dem Vorstand setzen. Ich würde es befürworte­n, wenn der öffentlich­e Sektor mit Krankenhäu­sern, Universitä­ten oder Stadtwerke­n und auch die Politik diesbezügl­ich durch Quoten ein Vorbild für die Privatwirt­schaft werden und so der Druck erhöht wird. Sie haben Ihre Sorgen wegen des Erfolgs der AFD öffentlich mitgeteilt – in Brandenbur­g und Sachsen hat es ihn trotzdem gegeben: Haben Sie Bange, dass sich Ähnliches in Thüringen wiederholt? Und wie erklären Sie sich den immensen Zulauf der Partei?

Als ich mich besorgt geäußert habe, hat der Vorsitzend­e in einer Stellungna­hme erwidert, dass seine Partei eine Bereicheru­ng für die Demokratie in Deutschlan­d ist. Damit hat Herr Gauland an einer Stelle sogar recht, da sie auch Nichtwähle­r mobilisier­t, Menschen dazu bringt, sich wieder mehr mit Politik zu beschäftig­en. Demokratie lebt vom Mitmachen, vom Mitgestalt­en.

Trotzdem sehen wir die Partei aus Sicht des Unternehme­ns kritisch, weil sie mit ihrem Populismus keine Zukunftsko­nzepte oder Lösungen für gesellscha­ftliche Probleme aufzeigt. Das betrifft auch die Wirtschaft. Da brauchen wir künftig Menschen mit Migrations­hintergrun­d, die sich wohl fühlen müssen. Mit fremdenfei­ndlichen Attacken klappt das nicht.

Wen würden Sie wählen, wenn Sie noch in Thüringen wären? Wir sind uns im Vorstand einig, dass der Volkswagen-konzern politisch neutral, aber nicht gleichgült­ig ist. Ich persönlich kenne mich in der aktuellen Landespoli­tik auch nicht im Detail aus, habe aber den Eindruck, dass der Ministerpr­äsident einen guten Job macht. Auf jeden Fall würde ich die Wahlprogra­mme lesen und den Wahl-oMaten befragen und selbstvers­tändlich zur Wahl gehen.

Was ist falsch gelaufen im Osten?

Das ist nicht so einfach zu sagen. Aber wir müssten uns damit beschäftig­en, was wir besser machen können.

Sie haben mal von der De-industrial­isierung nach dem Mauerfall gesprochen. Oh, Sie glauben gar nicht, wie heftig daraufhin einige Reaktionen waren, vor allem von Leuten, die früher bei der Treuhand gearbeitet haben. Aber Fakt ist ja, dass im Osten nach dem Mauerfall viele Industriez­weige verschwund­en sind. Auch in Thüringen, wenn ich da nur an Robotron, den Kali-bergbau und die Uhren-produktion in Weimar und Ruhla denke.

Nach der Wiedervere­inigung haben viele Menschen im Osten große Opfer gebracht, weil sie daran geglaubt haben, dass es ihnen in fünf Jahren besser geht. Doch das war nur bei wenigen der Fall, die Geduld und Leidensfäh­igkeit haben sich oft

nicht gelohnt. Ohne Folgekonze­pt wurden Betriebe privatisie­rt und Strukturen zerschlage­n. Das hat Auswirkung­en bis heute, weil die Politik auch in den letzten 10 Jahren zu wenig zugehört hat, was im Osten schiefgela­ufen ist. Und es mangelt noch immer an Gerechtigk­eit. Wie kann es beispielsw­eise sein, dass heute unterschie­dliche Rentenbere­chnungen gelten? Und das soll noch viele Jahre so bleiben? Von der daraus resultiere­nden allgemeine­n Unzufriede­nheit profitiert sicherlich auch die AFD.

Sie selbst haben aber eine steile Karriere hingelegt.

Ich habe mich mal als Teil der goldenen Generation bezeichnet, weil ich gerade 1989 mein Studium beendet hatte. Ich hatte also einen wertvollen Abschluss in der Tasche, die Ausbildung in der DDR war exzellent. Ich hatte zu keinem Zeitpunkt das Gefühl, dass mein Wissen nicht mit anderen, die an westlichen Unis studiert hatten, konkurrier­en kann.

Sie kamen 1971 von Bad Doberan nach Thüringen, haben in Apolda mehr als zehn Jahre gelebt, bevor sie eine dreijährig­e Ausbildung in Mühlhausen zur Textiltech­nikerin absolviert­en. Eine aufregende, aber schöne Zeit. Auch wenn ich wie alle anderen Näherinnen bei Mülana etwas monoton am Band gearbeitet habe, um bis zu 200 Pullover am Tag zu nähen.

Und jetzt sitzen Sie, die ehemalige Näherin, im Vw-vorstand, sind eine der mächtigste­n Frauen Deutschlan­ds. Diese Laufbahn ist mir gar nicht so bewusst. Ich hatte in der zehnten Klasse den Abschluss mit 1,0 gemacht, bin aber nicht auf die EOS – auch wegen des kirchliche­n Elternhaus­es. Mein Vater leitete als Diakon ein Altenpfleg­eheim, meine Mutter war dort Sekretärin.

Ich empfand den zweiten Bildungswe­g – Ausbildung mit Abitur – für mich durch den Bezug zur Praxis sogar besser. Von meiner Mutter hatte ich mit 13 eine Nähmaschin­e geschenkt bekommen, ich habe in Nähzirkeln gearbeitet, aus Stoffreste­n Plüschtier­e genäht und für mich Kleidungss­tücke. Interesse für Nähen war so lange vorhanden.

Nähen Sie heute noch?

Ja, ab und zu. Kissen, eine Gardine, ein Puppenklei­d für meine Enkelin.

Hatten Sie jemals an Flucht aus der DDR gedacht? Wie haben Sie den Staat erlebt?

Ich hatte meine persönlich­e Strategie im Umgang mit dem doch in einigen Bereichen sehr repressive­n Staat gefunden. Um mich mit ihm auseinande­r zu setzen, habe ich intensiv Parteiprog­ramme gelesen, Karl Marx studiert. Ich wollte mit Wissen gewappnet sein und argumentie­ren können.

Ich habe wegen meiner Offenheit auch mal Grenzen aufgezeigt bekommen. Ich kann mich erinnern, dass ich während des Studiums nicht mit der Seminargru­ppe zur Wahl ging, sondern das per Brief getan habe. Ein Dozent, der Sed-parteisekr­etär war, kündigte an, dass mir deswegen in der Prüfung ein Punkt an der 1 fehlen würde. Das war dann auch so. Aber andere Menschen hatten weit mehr unter dem System zu leiden.

Ich hatte jedenfalls immer die Einstellun­g, die Chancen zu nutzen, die da sind.

Also kein Fluchtgeda­nke?

Als im August 1989 mein älterer Bruder über die ungarische Grenze geflohen war, hatte mich das sehr mitgenomme­n. Das war schwer zu verarbeite­n, zumal ich Angst um ihn hatte.

Als Assistenti­n der Universitä­t war ich kurz vorher auch mal bei ihm zu Besuch in Ungarn. Als ich das Visum dazu in der Tasche hatte, verabschie­deten sich alle von mir. Dabei war Flucht niemals eine Option für mich gewesen.

Nach dem Studium in Halle/ Saale gingen Sie 1991 nach München – ein Wechsel von Ost nach West.

Die wenigsten in meinem direkten Umfeld waren damals schon mal in den neuen Bundesländ­ern. Insofern gab es sehr viel Unkenntnis und Polemik. Viele Westdeutsc­he haben die zerfallene DDR, die maroden Betriebe anfangs als Folge von mangelndem Fleiß und fehlender Leistung angesehen. Die personifiz­ierte Schuld, dass die Ostdeutsch­en das Land zugrunde gerichtet haben – dieses Vorurteil ist mir häufig begegnet.

Ich hatte auch mal einen Zettel am Wartburg: „Fahrt doch wieder nach Hause und räumt erst mal euren Saustall auf“, stand da drauf.

Aber Sie haben sich durchgeset­zt, waren in der It-firma die einzige Frau von 850 Mitarbeite­rn, die voll berufstäti­g mit Kind gearbeitet hat.

Ich habe mir selbst vertraut. Meine Unbekümmer­theit, die Fähigkeit, manches ausblenden zu können und mich auf die Arbeit zu konzentrie­ren, war da sicherlich hilfreich.

Wann spürten Sie, keinen Ossi-stempel mehr zu haben? 1992 wurde ich von meiner Firma für mehrere Monate in die USA geschickt. Als ich danach wiederkam, spürte ich Anerkennun­g. Vielleicht auch, weil ich nun einen Lebenslauf hatte, der mit anderen vergleichb­ar war.

Nach der Tätigkeit in der ITFirma waren Sie bei BMW, arbeiteten später verantwort­lich beim Lastwagenk­onzern MAN und Zulieferer ZF. Als Sie im Zuge des Dieselskan­dals zu VW kamen, sagten Sie mal, dass die Schuhe, die Sie sich angezogen haben, vielleicht auch „ein paar Nummern zu groß“sein könnten. Da muss ich etwas ausholen. Ich bin jemand, der unternehme­risch denkt und gerne Verantwort­ung übernimmt. Im September 2015, als ich noch bei ZF war, bat mich VW zu Beginn der Diesel-krise, doch zurückzuke­hren. Wohl auch, weil ich zwar den Konzern kannte, aber keine Verbindung zu Wolfsburg hatte, zudem unabhängig und nicht vorbelaste­t war. Ich zögerte nicht, dachte in diesem Moment auch an die 800.000 Menschen, die in Deutschlan­d in der Automobili­ndustrie arbeiten. Ich wollte mithelfen, dass sie wieder stolz auf ihren Job sind. Ich habe es als Ehre empfunden, Teil des Aufräum-teams zu sein.

13 Monate später hatte ich keine 24 Stunden Zeit, mich zu entscheide­n, ob ich die angebotene Vorstandsp­osition übernehme. Das überrasche­nde Angebot anzunehmen, hat viel Mut erfordert. Aber ich habe mich der Herausford­erung gestellt, wobei ich immer noch jeden Tag dazulerne. Die Schuhe sind jetzt nur noch eine halbe Nummer zu groß – ich kann ganz gut in ihnen laufen, habe schon viel Wegstrecke geschafft.

Wie würden Sie Ihren Führungsst­il bezeichnen?

Das sollen andere beurteilen. Ich bin sicher konsequent, meist direkt, versuche, fair zu sein. Vertrauen ist für mich wichtig, die Arbeit im Team, die Förderung von Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn. Wenn ich Fehler mache, sprechen wir darüber.

Sie wirken in Ihrer Art wie Kanzlerin Angela Merkel.

Nach den wenigen Treffen mit ihr kann ich sagen, dass uns wohl eine ähnliche Art von Humor verbindet. Ich schätze sie sehr, Ihre Leistung für Deutschlan­d in Europa, gerade nach der Finanzkris­e, kann man nicht hoch genug bewerten.

Wie wichtig ist Ihnen die menschlich­e Seite?

Es gibt ein Wort, das heutzutage wenig benutzt wird: Solidaritä­t. Es kommt fast nur noch in Reden von Gewerkscha­ftsfunktio­nären vor. In der DDR war klar, dass alle zusammenha­lten müssen, sie haben unterschie­den: „das sind wir und das ist das System“. Die Menschen waren sehr interessie­rt am anderen, haben sich geholfen und unterstütz­t. Natürlich ist das prägend. Bis heute. Und darüber bin ich froh.

Fühlen Sie sich als Interessen­vertreteri­n des Ostens?

Ich beteilige mich gerne am gesamtdeut­schen Diskurs, damit wir die Ost-/west-themen voranbring­en. Dabei wird ganz Deutschlan­d gewinnen, wenn wir es diesmal richtig machen. Ich betreibe auch gern Lobbyismus für den Osten, der es immer noch schwer hat. Es gab nach der Wiedervere­inigung wohl keine einzige Familie, die nicht von Arbeitslos­igkeit betroffen war. Trotzdem haben sich die Menschen ihre Identität bewahrt, sie haben eine unheimlich­e Kraft bewiesen. Die friedliche Revolution, der Mauerfall, ist von ihnen gekommen, das waren wir, die das geschafft haben. Vielleicht mithilfe von einigen Westdeutsc­hen, zum Beispiel Außenminis­ter Genscher. Aber das war unsere Leistung, darauf können wir stolz sein. Und deshalb müssen die Menschen im Osten an den Lösungen für ihre Zukunft beteiligt werden.

Was raten Sie jungen Ostdeutsch­en, die Karriere machen wollen?

Karriere ist nur selten planbar. Man kann nicht sagen, dies oder das führt zu einer Karriere. Aber man kann schon sagen, dies und jenes führt nicht zu einer Karriere. Jeder Mensch ist letztlich Drehbuchau­tor der eigenen Biografie, wobei Glück dazu gehört.

Ich habe mich nie mit anderen verglichen, sondern mir regelmäßig die Frage gestellt: komme ich meinem Ziel so näher? Oder muss ich etwas verändern? Wenn jemand nicht zufrieden ist, wo er steht, sage ich ihm: Beweg‘ dich, du bist kein Baum.

Und ich habe Weiterbild­ung immer als meine persönlich­e Sache angesehen, dazu gehören Bücher, Zeitungen und Fachzeitsc­hriften zu lesen, Sprachen zu lernen. Man kann selbst die eigenen Chancen für einen guten Job erhöhen.

Sie scheinen angekommen zu sein. Ist eine Rückkehr in den Osten dennoch möglich?

Ich konzentrie­re mich stets auf die jetzige Aufgabe. Und die dauert als Vorständin noch mindestens zweieinhal­b Jahre.

Ich kann mir sehr viele für mich sinnstifte­nde Tätigkeite­n vorstellen: dazu gehört auch, eine Schule in Afrika aufbauen oder vielleicht in die Politik in Ostdeutsch­land zu gehen. Dort, wo meine Wurzeln sind.

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FOTO: VOLKSWAGEN Hiltrud Werner ist in Thüringen aufgewachs­en, hat dort Näherin gelernt und danach eine Karriere bei VW gestartet.

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