Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Das neue Flüchtling­sdrama

In Griechenla­nd kommen wieder tausende Migranten an. Der türkische Präsident Erdogan spielt dabei eine dubiose Rolle

- Von Gerd Höhler

Athen. Die Lage auf den griechisch­en Inseln der östlichen Ägäis spitzt sich von Tag zu Tag weiter zu. Immer mehr Flüchtling­e und Migranten kommen mit Booten aus der Türkei. Sie fliehen vor Kriegen, aber auch vor Armut. In der EU suchen sie Arbeit und Schutz vor Verfolgung. Der türkische Präsidnt droht, er werde „die Tore öffnen“und Europa mit Flüchtling­en überschwem­men, wenn die EU der Türkei keine weiteren Finanzhilf­en leistet. Griechisch­e Experten fürchten bereits eine Neuauflage der Flüchtling­skrise von 2015. Der neue, konservati­v-liberale Ministerpr­äsident Kyriakos Mitsotakis ruft jetzt die EU um Hilfe.

Über 500 Flüchtling­e und Migranten erreichten am vergangene­n Wochenende die griechisch­en Inseln in der östlichen Ägäis. Die überladene­n Schlauchbo­ote kommen in immer dichterer Folge von der türkischen Küste über das Meer, oft in ganzen Konvois. An einem Donnerstag Ende August kamen allein auf der Insel Lesbos binnen einer Stunde 13 Boote an. 700 bis 1000 Dollar pro „Passagier“kassieren die Menschensc­hmuggler für die Überfahrt. Nach Un-angaben trafen im August 8103 Menschen aus der Türkei auf den Inseln ein – zweieinhal­b Mal so viel wie im August 2018. Seit Januar haben bereits 25.943 Personen Griechenla­nd erreicht. Es wären noch viel mehr, wenn die türkische Küstenwach­e nicht Boote mit nach eigenen Angaben 46.687 Insassen gestoppt und an der Überfahrt gehindert hätte.

Aber jetzt glaubt man in Griechenla­nd Anhaltspun­kte dafür zu haben, dass die türkischen Behörden die Kontrollen in jüngster Zeit laxer handhaben. Lässt Staatschef Recep Tayyip Erdogan den Schleusern freie Hand, um seinen Geldforder­ungen Nachdruck zu verleihen?

Auch wenn die Zahl der Ankömmling­e steigt, ist sie von den Zuständen im Krisensomm­er 2015, als die Fluchtwell­e in der Ägäis ihren Höhepunkt erreichte, noch weit entfernt. 2015 waren mehr als 850.000 Menschen aus der Türkei nach Griechenla­nd gekommen. „2015 haben wird mit 500 bis 700 Ankommende­n pro Tag angefangen, was sich dann schnell auf 10.000 steigerte“, erinnert sich Zacharoula Tsirigotis. Sie war bis vor wenigen Wochen als einzige griechisch­e Polizistin im Generalsra­ng für den Grenzschut­z zuständig. In der Zeitung „Kathimerin­i“äußerte Tsirigotis den Verdacht, die Türkei öffne jetzt die Schleusen, um politische­n Druck auf die EU und GriechenGe­rald Knaus, Migrations­forscher, wanrt vor einem Ende des Eu-flüchtling­spakts mit der Türkei

land zu machen.

Schon jetzt ist die Lage in den fünf Erstaufnah­melagern auf den ostägäisch­en Inseln Kos, Lesbos, Samos, Chios und Leros, so dramatisch wie seit dem Höhepunkt der Krise nicht mehr. In den Lagern, die für die Unterbring­ung von 6300 Personen ausgelegt sind, harren fast 22.000 Menschen aus.

Weitere 3600 Menschen sind in Wohnungen und kleineren Lagern untergebra­cht. Sie sollen so lange auf den Inseln bleiben, bis über ihre Asylanträg­e entschiede­n ist. Doch das kann Jahre dauern, weil die Behörden völlig überforder­t sind. Hilfsorgan­isationen warnen vor einer humanitäre­n Katastroph­e im Winter. Viel zu wenige sanitäre Anlagen, keine ausreichen­de ärztliche Versorgung, sexuelle Übergriffe, stundenlan­ges Anstehen bei der Essensausg­abe – die Zustände in den Lagern sind menschenun­würdig.

Die neue Regierung will jetzt die Asylverfah­ren beschleuni­gen. Außerdem plant die Regierung, das Asylrecht zu ändern, um die Einspruchs­möglichkei­ten abgelehnte­r Bewerber einzuschrä­nken. Die Mehrzahl der Neuankömml­inge sind inzwischen nicht mehr Kriegsflüc­htlinge, sondern Wirtschaft­smigranten aus asiatische­n und afrikanisc­hen Ländern. Um die Insellager zu entlasten, sollen 4500 besonders schutzbedü­rftige Menschen aufs Festland gebracht werden. Aber auch dort sind die Unterkünft­e überfüllt. Die Regierung will daher im Eiltempo weitere provisoris­che Flüchtling­slager für rund 4000 Asylbewerb­er schaffen.

Der österreich­ische Migrations­forscher Gerald Knaus, der 2016 maßgeblich an der Konzipieru­ng des Eu-türkei-flüchtling­sabkommens mitwirkte, warnt vor einem drohenden Scheitern des Pakts: „Wenn er zusammenbr­icht, dann wegen des Scheiterns auf den griechisch­en Inseln.“Knaus fordert Unterstütz­ung für Griechenla­nds Behörden, etwa durch das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtling­e.

Knaus plädiert auch dafür, Migranten zeitnah in die Türkei zurückzusc­hicken, wie es das Flüchtling­sabkommen vorsieht. Von dieser Möglichkei­t haben die griechisch­en Behörden unter der Vorgängerr­egierung von Premier Alexis Tsipras nur in etwa 2400 Fällen Gebrauch gemacht. Der neue Regierungs­chef Mitsotakis will die Rückführun­gen beschleuni­gen. Offen ist aber, ob die Türkei überhaupt Migranten zurücknimm­t.

Lager sind komplett überfüllt

„Wenn der Pakt zusammenbr­icht, dann wegen des Scheiterns auf den griechisch­en Inseln.“

Millionen neue Flüchtling­en aus Syrien?

Zunächst einmal wächst der Druck aus der Türkei. Da ist zum einen die Lage in Istanbul. Hier sind 547.000 syrische Flüchtling­e registrier­t. Man schätzt aber, dass sich mindestens weitere 300.000 Migranten illegal in der Stadt aufhalten. Sie sollen Istanbul bis 30. Oktober verlassen. Zugleicht bahnt sich eine weitere Flüchtling­swelle aus Syrien in die Türkei an, nämlich aus der von Regierungs­truppen belagerten Rebellenho­chburg Idlib. Staatschef Erdogan rechnet mit zwei Millionen neuen Flüchtling­en. „Entweder Sie teilen diese Last, oder wir müssen die Tore öffnen“, so Erdogan an die Adresse der Europäer.

Die Türkei beherbergt schon mehr als vier Millionen Flüchtling­e und Migranten, darunter 3,6 Millionen Syrer – mehr als jedes andere Land. Die EU hat Ankara im Rahmen der im Frühjahr 2016 geschlosse­nen Flüchtling­svereinbar­ung Finanzhilf­en von sechs Milliarden Euro zugesagt. Davon seien bisher 5,6 Milliarden geflossen, der Rest werde bald ausgezahlt, heißt es in Brüssel. Erdogan behauptet dagegen, die EU komme ihren Zusagen nicht nach.

Athen fordert seit Langem eine gerechtere Verteilung der Flüchtling­e in Europa und eine Reform der Asylpoliti­k, um Erstankunf­tsländer wie Griechenla­nd zu entlasten. Besonders das Schicksal der geflüchtet­en Kinder besorgt Premier Mitsotakis.: Etwa 4200 unbegleite­te Minderjähr­ige harren auf den Inseln aus. Mitsotakis appelliert an die anderen Eu-staaten: „Es kann nicht sein, dass ein Land sich weigert, 50 oder 100 Kinder aufzunehme­n.“

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FOTO: REUTERS Die Zustände in den griechisch­en Lagern sind menschenun­würdig. Kinder leider darunter besonders.
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FOTO: BALASKAS/EPA/SHUTTERSTO­CK Die Schlauchbo­ote kommen in immer dichterer Folge von der türkischen Küste über das Meer, oft in ganzen Konvois.

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