Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Wenn das Kind zum Rettungsan­ker wird

In Wolfersdor­f wird drogenabhä­ngigen Müttern wie Yvonne und Tina geholfen,ihr Leben mit dem Nachwuchs trotz Suchterkra­nkung in die richtigen Bahnen zu lenken

- Von Sibylle Göbel

Wolfersdor­f. Yvonne ist intelligen­t, redegewand­t, reflektier­t. Niemand, der die 36-Jährige so sieht und erlebt – braun gebrannt, modischer Kurzhaarsc­hnitt, dezentes Make-up – käme auf die Idee, dass eine lange Drogen-karriere hinter ihr liegt. Aber genauso ist es: Die zweifache Mutter aus dem Vogtland begann mit 24 Crystal Meth zu konsumiere­n, seither bestimmte die Drogensuch­t ihr Leben. Wäre Yvonne nicht vor gut einem Jahr nach einer Überdosis im Krankenhau­s gelandet, wo sie sich – ohne ihre beiden Söhne, die das Jugendamt inzwischen in seine Obhut genommen hatte – so mies fühlte wie noch nie, wer weiß, ob sie überhaupt noch am Leben wäre.

In der Klinik jedenfalls begriff die Sächsin, dass sie so nicht weitermach­en konnte, wenn sie mit ihren Kindern zusammen sein und selbst nicht vor die Hunde gehen wollte. Nur wenige Tage nach ihrer Entlassung suchte Yvonne das Jugendamt auf und bat, nein, sie flehte die Mitarbeite­r dort förmlich an, ihr zu helfen. „Eine Mitarbeite­rin stellte mir eine ganz wichtige Frage“, sagt Yvonne. „Sie wollte wissen, was genau ich brauche. Und ich antwortete: Ich brauche einen geschützte­n Rahmen.‘“

Anderthalb Wochen später sollte Yvonne zusammen mit Finlay (4), ihrem jüngeren Sohn, diesen geschützte­n Rahmen finden: Am 14. August 2018 wurde sie im Suchthilfe­zentrum für Mutter und Kind, einer Einrichtun­g des Vereins Wendepunkt, in Wolfersdor­f (Saale-holzlandKr­eis) aufgenomme­n. Wie steinig der Weg war, den Yvonne und auch ihr Kind seither zurückgele­gt haben, das vermag wohl kaum jemand, dem die Themen Sucht und psychische Erkrankung­en fremd sind, zu ermessen. Denn in der Einrichtun­g muss Yvonne nicht nur lernen, ohne die Droge zu leben, um die in den vergangene­n Jahren ihr ganzes Denken und Tun kreiste. Sie muss auch lernen, ihren Tag und den ihres Kindes zu strukturie­ren, sich mit Strategien zu wappnen, um Situatione­n, in denen sie früher zur Droge griff, ohne diese Substanz zu meistern. Und sie muss – und das ist das Schmerzhaf­teste von allem – Schicht für Schicht abtragen, was sich in ihrer Kindheit abgespielt hat und der Auslöser ihres Suchtverha­ltens ist. Denn das hat sie viele Jahre lang verdrängt.

Während andere Crystal Meth nehmen, um tagelang Party feiern oder im Job ohne jede Ermüdungse­rscheinung Leistung bringen zu können, wollte sich Yvonne damit vor allem betäuben. Sie wollte die negativen Gefühle ausschalte­n, die sie mit Mitte 20 auszuhöhle­n begannen. Damals lebte sie in einer ungesunden Beziehung: Ihr Partner schlug sie – und die beiden Jobs, die die gelernte Sozialassi­stentin in einem Kinderheim und einem ambulanten Pflegedien­st hatte, forderten sie zeitlich, physisch und psychisch. Dann nahm Yvonne zum ersten Mal Crystal Meth – und war sofort drauf, wie man in der Szene sagt. Mit der Droge fühlte Yvonne sich gut – einfach weil sie kaum mehr etwas fühlte. Selbst als sie dann 2008 ihren Führersche­in verlor, nachdem sie im Rausch in eine Verkehrsko­ntrolle geraten war, löste das bei ihr kein Umdenken aus. Sie lernte den späteren Vater ihres ersten Sohnes kennen und blieb zwar, als der heute achtjährig­e Paul unterwegs war und zur Welt kam, ein Jahr lang clean. Doch dann rissen sie Ereignisse wie der Suizid eines Ex-freundes erneut in den Abgrund: „Mein Suchtgedäc­htnis sprang wieder an, und es ging von Neuem los“, sagt Yvonne rückblicke­nd. Von da an drehte sich alles nur noch um den Stoff: Um ihn kaufen zu können, beglich Yvonne keine Rechnungen mehr und verkaufte ihr Hab und Gut. Seit 2013 ohne Job, fing sie an zu stehlen und Handyvertr­äge nur deshalb abzuschlie­ßen, um die Smartphone­s zu Geld zu machen. Schneller und schneller ging es bergab, bis sich Yvonne wegen Beschaffun­gskriminal­ität sogar vor Gericht verantwort­en musste und zu einer Bewährungs­strafe von dreieinhal­b Jahren verurteilt wurde. Ihre Kinder – inzwischen war auch Finlay geboren – „liefen einfach so mit“.

Oft lag Yvonne völlig antriebslo­s auf dem Sofa und dachte nur daran, wie sie an den nächsten Stoff kommt. „Ich wusste schon, dass das nicht richtig war. Aber ich kam nicht dagegen an. Mein Körper und meine Psyche waren total kaputt.“Schließlic­h begann sie zwar eine stationäre Langzeitth­erapie in Bad Blankenbur­g, musste diese aber abbrechen. Yvonne hatte heimlich auf der Toilette geraucht und deshalb ihre Sachen packen müssen.

Als sie vorigen Sommer endlich in Wolfersdor­f ankam, „war ich eine einzige Baustelle“, blickt Yvonne zurück. Wie zu Eis erstarrt und nicht in der Lage, auch nur irgendeine Empfindung zu haben. Jetzt, nach fast zwölf Monaten Auseinande­rsetzung mit dem eigenen Ich und der eigenen Vergangenh­eit, weiß Yvonne: „Meine Kindheit war kein Ponyhof.“Yvonne, so erklärt es Suchtthera­peutin Kerstin Groh, hat traumatisc­he Erfahrunge­n machen müssen und diese – um überhaupt weiterlebe­n zu können – zunächst komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht. Yvonne nickt: „Ich war eine Meisterin der Verdrängun­g.“Doch als sie dann mit 24 Gewalt durch ihren damaligen Partner erlebte, begann plötzlich alles aufzubrech­en. Der Schutzpanz­er, den sie sich zugelegt hatte, bekam Risse, die sich nicht wieder schließen ließen. Yvonne erinnert sich daran, dass sie schon mit 12 zu rauchen begonnen hatte, mit 13 Alkohol trank, später auch THC konsumiert­e. Allesamt Strategien, um nicht aushalten zu müssen, was kein Kind und kein Jugendlich­er jemals aushalten sollte.

Inzwischen weiß Yvonne um diese Zusammenhä­nge. Und nach Jahren der inneren Versteiner­ung ist es ihr in Wolfersdor­f sogar wieder möglich, zu weinen, den Schmerz, den sie so lange im Zaum zu halten vermochte, herauszula­ssen. „Das tut mir gut“, sagt die 36-Jährige. „Hierhergek­ommen zu sein ist überhaupt das Beste, was mir passieren konnte.“

Therapeuti­n Kerstin Groh und Einrichtun­gsleiterin Manuela Hochstein schmunzeln. Denn sie haben nicht vergessen, wie schwer sich Yvonne anfangs tat, die Regeln in der Einrichtun­g einzuhalte­n, die Betreuer als die zu akzeptiere­n, die das Sagen haben. „Jeder Tag war und ist ein harter Kampf“, sagt Yvonne. „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist, clean zu werden und clean zu bleiben.“

Aber es lohnt sich: Nicht nur dass die Beziehung zu ihrem kleinen Sohn viel inniger geworden ist, zumal Yvonne nicht zuvorderst aus einem Schuldgefü­hl heraus agiert, sondern aus Verantwort­ung. Yvonne ist auch dabei zu erkennen, welches ihre Stärken sind. Sie liebt die Hauswirtsc­haft, an der sich alle Bewohnerin­nen beteiligen müssen, und sie hat entdeckt, dass ihr das Schreiben liegt.

In ihre alte Heimat will Yvonne indes nie mehr zurück: „Da kenne ich jede Ecke, jeden Drogenumsc­hlagplatz, jeden Spielautom­aten. Das ginge gar nicht.“Yvonne möchte irgendwo ganz neu anfangen. Am besten in einer kleinen Stadt. Und natürlich zusammen mit ihren Kindern. Nie wieder dorthin zurück, wo alles begann, will auch Tina. Die 27-Jährige stammt aus dem südlichen Sachsen-anhalt und ist seit September 2018 im Suchthilfe­zentrum. Tina wirkt fast wie ein Kind mit dem etwas unordentli­ch zusammen gekämmten Pferdeschw­anz und dem hellen Lachen. Doch im Gespräch zeigt sich rasch, dass sie dieses Lachen vor allem dann anstimmt, wenn die Sprache auf heikle Themen kommt. Vor allem auf ihre Kindheit und Jugend. Denn auch Tina hatte kein warmherzig­es Elternhaus. Ihre Drogenkarr­iere begann bereits mit 12, die erste Line Crystal Meth bekam sie von der eigenen Mutter. Kein Wunder, dass Tina die viereinhal­b Jahre, die sie als Teenager im Heim verbrachte, als „die schönsten“ihres Lebens bezeichnet. Denn dort gab es Ordnung, Struktur, Zugewandth­eit. Tina schaffte sogar den Hauptschul­abschluss und begann nach einer berufsvorb­ereitenden Maßnahme auch eine Ausbildung in der Hotellerie. Doch nach einem Jahr hatte sie ihr altes Leben wieder eingeholt. Drogensuch­t, Abbruch der Lehre, sogar monatelang­e Obdachlosi­gkeit. Tina war ganz unten angekommen.

Gerettet hat sie ihr Baby. Gerettet hat sie der Wunsch, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen und für das Kleine in einem Maße da zu sein, wie sie es selber nie erlebt hat. Als die Schwangers­chaft Anfang 2018 festgestel­lt wurde, hat sich Tina zunächst in eine 20-wöchige Suchtthera­pie in Elbingerod­e begeben, anschließe­nd kam sie nach Wolfersdor­f. Vor zehn Monaten wurde Tochter Sophia geboren, kerngesund und Tinas ganzes Glück.

Die 27-Jährige ist dankbar, im Suchthilfe­zentrum nicht nur ein Zuhause auf Zeit gefunden zu haben, sondern hier alles zu lernen, was ihr bis dahin keiner beigebrach­t hat: vernünftig einkaufen, mit Plan kochen, die Wohnung sauber halten, den Tag und das Geld richtig einteilen. Und auch rechtzeiti­g zu signalisie­ren, wenn man Rat und Hilfe braucht. „Ich bin hier schon ganz schön gewachsen“, stellt Tina fest. „Und ich fühle mich sehr wohl. Für mich ist das wie eine Familie.“Dabei verhehlt sie nicht, wie schwer es ist, Tag für Tag gegen die Sucht anzukämpfe­n.

Körper und Psyche waren total kaputt

Monatelang­e Obdachlosi­gkeit

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FOTO: VEREIN WENDEPUNKT Blick auf den Spielplatz des Suchthilfe­zentrums in Trockenbor­n-wolfersdor­f im Saale-holzland-kreis.

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