Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Wie der Staat Gefährder stoppen will
Viele Islamisten und Neonazis sind gewaltbereit. Ein Programm hilft der Polizei, sie rechtzeitig zu identifizieren
Berlin. 695 Islamisten hat die Polizei derzeit als „Gefährder“eingestuft – Personen, die aus Sicht der Behörden jederzeit eine schwere Straftat wie einen Anschlag begehen könnten. Hinzu kommen 39 Rechtsextremisten, sechs Linksextremisten, 22 andere gefährliche Ausländer.
Es ist seit Jahren eine der größten Herausforderungen für die Sicherheitsbehörden: Sie müssen unter den Hunderten Hardcore-extremisten diejenigen herausfiltern, die am gefährlichsten sind. Diejenigen, die Gewalt auszuüben bereit sind. Die Polizei will Straftäter erkennen – am besten, bevor sie tatsächlich zum Täter werden.
Der Attentäter vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, war als ein solcher „Gefährder“eingestuft, trotzdem konnte er zuschlagen. Stephan E., der Rechtsextremist, der den CDUPolitiker Walter Lübcke erschossen haben soll, will den Sicherheitsbehörden in der Zeit vor der Tat nicht aufgefallen sein. Im hessischen Wächtersbach schoss im Juli ein mutmaßlicher Rechter auf einen Mann aus Eritrea. Auch er war für die Behörden ein Unauffälliger.
Können die Sicherheitsbehörden messen, wie radikal ein Mensch ist und wann er zuschlagen wird? Es ist eine zentrale Frage, mit der sich Wissenschaftler gemeinsam mit Polizisten in den vergangenen Jahren befasst haben. Sie suchen nach neuen Werkzeugen für die Ermittler, entwickeln Programme, erforschen stärker die Psychologie von Extremisten.
Dass Amri zuschlagen würde, hielten die Ermittler vor dem Attentat für „eher ausgeschlossen“und „eher unwahrscheinlich“. Sie nutzten dafür ihr älteres Prognosemodell, bestehend aus acht Stufen. Amri war erst auf Stufe 7, dann 5. Stufe 1 ist die höchste Alarmstufe. In den Monaten vor dem Anschlag im Dezember 2016, in denen Amri die deutschen Behörden beschäftigte, entwickelte das Bundeskriminalamt gemeinsam mit Forschern der Universität in Konstanz ein neues Programm. Radar ITE, heißt es. Es soll Risiken bewerten.
Radar ITE ist keine ausgeklügelte Software, dahinter steckt kein Rechner, der mithilfe von Algorithmen „Gefährder“einstuft. Im Prinzip sind es Tabellen, die Polizisten nutzen. Und rund 70 Kriterien, ein Katalog.
Anders als in der Vergangenheit, gehen Polizisten viel stärker auf die Geschichte und die Lebenslage einer Person ein. Ist ein Islamist in einer Beziehung zu einer anderen Person, die ihn vielleicht bremst? Ist er nur mit der Mutter aufgewachsen? Fiel die Person auf mit psychischen Erkrankungen? Hat er eine Arbeit oder ist er schon lange ohne Job? Besucht er eine Moschee, in der auch radikale Prediger auftreten?
Es gibt Polizisten, die fast drei Jahre nach dem Anschlag in Berlin sagen: „Mit den Werkzeugen von heute hätten wir Amri als deutlich gefährlicher bewertet.“
Relevant sind für die Ermittler auch Informationen, ob ein Extremist in der Vergangenheit gewalttätig war oder sogar im Ausland an Waffen ausgebildet wurde. Oder in der Bundeswehr militärisch geschult wurde. Wichtige Fragen, wenn es darum geht, ob ein Islamist oder Neonazi für einen Anschlag mit Sprengstoff oder Pistole vorbereitet ist.
Während die Zahl der gefährlichen Islamisten leicht sinkt, steigt die Zahl der rechtsextremen „Gefährder“. Die Werkzeuge, die Sicherheitsbehörden für den Islamismus entwickelt haben, sollen jetzt Neonazis in den Blick nehmen.
Ein großer Fortschritt ist: Polizisten aus Bund und Ländern haben jetzt Standards, nach denen sie einen Menschen bewerten. Der Fall Amri zeigt, wie wichtig das ist. So urteilten die Fachleute der Landeskriminalämter von Nordrhein-westfalen und Berlin bis zuletzt ganz unterschiedlich über den Extremisten. Wie einen Fragebogen beantworten die Beamten nun jeden einzelnen Punkt zu einem Radikalen, sofern Informationen dazu vorliegen. Dann fällen sie ein Urteil: „moderates Risiko“oder „hohes Risiko“, Stufe Rot.
Radar ITE sei „ein wichtiges Hilfsmittel der Priorisierung des Einsatzes der stets knappen polizeilichen Ressourcen“, fasst es Daniel Heinke zusammen. Er ist Leiter des Bremer LKA und arbeitet zugleich als Extremismusforscher.
Doch so einfach lässt sich nicht umsteuern – von Islamist auf Neonazi. Um Kriterien für Radar ITE zu entwerfen, haben Forscher und Polizisten Daten von Extremisten ausgewertet, Fallstudien über Islamisten analysiert und speziell geschaut, was bei der Biografie von radikalen Salafisten auffiel. Eine solche Forschung fehlte der Polizei nach eigenen Angaben bisher.
Klar ist aus Sicht von Experten aber auch: Ob ein Neonazi bei der Bundeswehr an Waffen gelernt hat, interessiert bei der Bewertung genauso wie beim Islamisten. Auch Gewalttaten in der Vergangenheit können bei allen Extremisten ein Warnzeichen sein. Und die Stabilität im Leben durch eine intakte Familie und gute Arbeit wirkt sich auf einen Menschen aus, egal ob rechts, links oder islamistisch.
Zahl der rechtsextremen „Gefährder“wächst
Strategiewechsel bei den Sicherheitsbehörden
Die Polizei kategorisiert nicht mehr so stark nur „Tätertypen“, das habe „national als auch international keinen Erfolg erbracht“, heißt es in internen Papieren des Bundeskriminalamts (BKA). Stattdessen schauen sich die Ermittler genau die Biografie des einzelnen Extremisten an.
Das ist ein Wandel in der Strategie der Sicherheitsbehörden. In gemeinsamen Sitzungen im Terrorabwehrzentrum diskutieren Kriminalbeamte und Geheimdienstler manchmal mehrere Stunden über einen einzigen Extremisten und dessen Lebenslage.
Als Radar ITE im Sommer des Jahres 2017 zum Einsatz kam, ein halbes Jahr nach dem Attentat in Berlin, speisten die Ermittler alle Daten von Anis Amri in den Katalog ein, die sie vor dem Anschlag hatten. Das Prognosetool spuckte ein Ergebnis aus. Es stufte Amri auf „Rot“, hohes Risiko.