Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Wie der Staat Gefährder stoppen will

Viele Islamisten und Neonazis sind gewaltbere­it. Ein Programm hilft der Polizei, sie rechtzeiti­g zu identifizi­eren

- Von Christian Unger

Berlin. 695 Islamisten hat die Polizei derzeit als „Gefährder“eingestuft – Personen, die aus Sicht der Behörden jederzeit eine schwere Straftat wie einen Anschlag begehen könnten. Hinzu kommen 39 Rechtsextr­emisten, sechs Linksextre­misten, 22 andere gefährlich­e Ausländer.

Es ist seit Jahren eine der größten Herausford­erungen für die Sicherheit­sbehörden: Sie müssen unter den Hunderten Hardcore-extremiste­n diejenigen herausfilt­ern, die am gefährlich­sten sind. Diejenigen, die Gewalt auszuüben bereit sind. Die Polizei will Straftäter erkennen – am besten, bevor sie tatsächlic­h zum Täter werden.

Der Attentäter vom Berliner Breitschei­dplatz, Anis Amri, war als ein solcher „Gefährder“eingestuft, trotzdem konnte er zuschlagen. Stephan E., der Rechtsextr­emist, der den CDUPolitik­er Walter Lübcke erschossen haben soll, will den Sicherheit­sbehörden in der Zeit vor der Tat nicht aufgefalle­n sein. Im hessischen Wächtersba­ch schoss im Juli ein mutmaßlich­er Rechter auf einen Mann aus Eritrea. Auch er war für die Behörden ein Unauffälli­ger.

Können die Sicherheit­sbehörden messen, wie radikal ein Mensch ist und wann er zuschlagen wird? Es ist eine zentrale Frage, mit der sich Wissenscha­ftler gemeinsam mit Polizisten in den vergangene­n Jahren befasst haben. Sie suchen nach neuen Werkzeugen für die Ermittler, entwickeln Programme, erforschen stärker die Psychologi­e von Extremiste­n.

Dass Amri zuschlagen würde, hielten die Ermittler vor dem Attentat für „eher ausgeschlo­ssen“und „eher unwahrsche­inlich“. Sie nutzten dafür ihr älteres Prognosemo­dell, bestehend aus acht Stufen. Amri war erst auf Stufe 7, dann 5. Stufe 1 ist die höchste Alarmstufe. In den Monaten vor dem Anschlag im Dezember 2016, in denen Amri die deutschen Behörden beschäftig­te, entwickelt­e das Bundeskrim­inalamt gemeinsam mit Forschern der Universitä­t in Konstanz ein neues Programm. Radar ITE, heißt es. Es soll Risiken bewerten.

Radar ITE ist keine ausgeklüge­lte Software, dahinter steckt kein Rechner, der mithilfe von Algorithme­n „Gefährder“einstuft. Im Prinzip sind es Tabellen, die Polizisten nutzen. Und rund 70 Kriterien, ein Katalog.

Anders als in der Vergangenh­eit, gehen Polizisten viel stärker auf die Geschichte und die Lebenslage einer Person ein. Ist ein Islamist in einer Beziehung zu einer anderen Person, die ihn vielleicht bremst? Ist er nur mit der Mutter aufgewachs­en? Fiel die Person auf mit psychische­n Erkrankung­en? Hat er eine Arbeit oder ist er schon lange ohne Job? Besucht er eine Moschee, in der auch radikale Prediger auftreten?

Es gibt Polizisten, die fast drei Jahre nach dem Anschlag in Berlin sagen: „Mit den Werkzeugen von heute hätten wir Amri als deutlich gefährlich­er bewertet.“

Relevant sind für die Ermittler auch Informatio­nen, ob ein Extremist in der Vergangenh­eit gewalttäti­g war oder sogar im Ausland an Waffen ausgebilde­t wurde. Oder in der Bundeswehr militärisc­h geschult wurde. Wichtige Fragen, wenn es darum geht, ob ein Islamist oder Neonazi für einen Anschlag mit Sprengstof­f oder Pistole vorbereite­t ist.

Während die Zahl der gefährlich­en Islamisten leicht sinkt, steigt die Zahl der rechtsextr­emen „Gefährder“. Die Werkzeuge, die Sicherheit­sbehörden für den Islamismus entwickelt haben, sollen jetzt Neonazis in den Blick nehmen.

Ein großer Fortschrit­t ist: Polizisten aus Bund und Ländern haben jetzt Standards, nach denen sie einen Menschen bewerten. Der Fall Amri zeigt, wie wichtig das ist. So urteilten die Fachleute der Landeskrim­inalämter von Nordrhein-westfalen und Berlin bis zuletzt ganz unterschie­dlich über den Extremiste­n. Wie einen Fragebogen beantworte­n die Beamten nun jeden einzelnen Punkt zu einem Radikalen, sofern Informatio­nen dazu vorliegen. Dann fällen sie ein Urteil: „moderates Risiko“oder „hohes Risiko“, Stufe Rot.

Radar ITE sei „ein wichtiges Hilfsmitte­l der Priorisier­ung des Einsatzes der stets knappen polizeilic­hen Ressourcen“, fasst es Daniel Heinke zusammen. Er ist Leiter des Bremer LKA und arbeitet zugleich als Extremismu­sforscher.

Doch so einfach lässt sich nicht umsteuern – von Islamist auf Neonazi. Um Kriterien für Radar ITE zu entwerfen, haben Forscher und Polizisten Daten von Extremiste­n ausgewerte­t, Fallstudie­n über Islamisten analysiert und speziell geschaut, was bei der Biografie von radikalen Salafisten auffiel. Eine solche Forschung fehlte der Polizei nach eigenen Angaben bisher.

Klar ist aus Sicht von Experten aber auch: Ob ein Neonazi bei der Bundeswehr an Waffen gelernt hat, interessie­rt bei der Bewertung genauso wie beim Islamisten. Auch Gewalttate­n in der Vergangenh­eit können bei allen Extremiste­n ein Warnzeiche­n sein. Und die Stabilität im Leben durch eine intakte Familie und gute Arbeit wirkt sich auf einen Menschen aus, egal ob rechts, links oder islamistis­ch.

Zahl der rechtsextr­emen „Gefährder“wächst

Strategiew­echsel bei den Sicherheit­sbehörden

Die Polizei kategorisi­ert nicht mehr so stark nur „Tätertypen“, das habe „national als auch internatio­nal keinen Erfolg erbracht“, heißt es in internen Papieren des Bundeskrim­inalamts (BKA). Stattdesse­n schauen sich die Ermittler genau die Biografie des einzelnen Extremiste­n an.

Das ist ein Wandel in der Strategie der Sicherheit­sbehörden. In gemeinsame­n Sitzungen im Terrorabwe­hrzentrum diskutiere­n Kriminalbe­amte und Geheimdien­stler manchmal mehrere Stunden über einen einzigen Extremiste­n und dessen Lebenslage.

Als Radar ITE im Sommer des Jahres 2017 zum Einsatz kam, ein halbes Jahr nach dem Attentat in Berlin, speisten die Ermittler alle Daten von Anis Amri in den Katalog ein, die sie vor dem Anschlag hatten. Das Prognoseto­ol spuckte ein Ergebnis aus. Es stufte Amri auf „Rot“, hohes Risiko.

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FOTO:GETTY Nach dem Mord am Kasseler Regierungs­präsidente­n Walter Lübcke haben die Sicherheit­sbehörden die rechte Szene verstärkt ins Visier genommen.
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FOTO: DPA Der Berliner Weihnachts­marktAtten­täter Anis Amri.
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FOTO: MARIJAN Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n.

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