Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Ich sehe was, was du nicht siehst

Andreas Pflüger sorgt im dritten Jenny-aaron-thriller mit wiederholt­en Spiegelung­en für spannende Selbsterke­nntnisse seiner Figur

- Von Michael Helbing

Weimar. Damals, als Jenny noch sehen konnte, trat sie vor einen Spiegel und erkannte sich nicht mehr. „Plötzlich verwandelt sich ihr Spiegelbil­d in das einer anderen Frau.“Eine Zwillingss­chwester vielleicht, jedenfalls aber nicht sie selbst.

Jetzt, da das Augenlicht zurückzuke­hren scheint, sieht ihr Spiegelbil­d irgendwie aus wie von Picasso gemalt. Andernorts schaut eine andere Frau in einen Spiegel: Malin, die auch einmal blind gewesen ist. „Wie jedes Mal ist sie sich bewusst, dass das Unsinn ist.“Denn Wahrheit ist darin nicht zu finden, nur dahinter.

„Wie willst du je erfahren/was hinter dem Spiegel ist/wenn du ihn nicht/ zerbrichst?“Diesen Vers stellt Andreas Pflüger seinem nunmehr dritten Thriller um die blinde Polizistin Jenny Aaron voran. In der Trilogie betrachtet, steuert er damit auf einen Showdown zu, der auf einem Schlachtfe­ld stattfinde­t, auf dem die Waffen schweigen müssen. Es ist der Showdown eines Machtkampf­es mit dem eigenen Ich. Und er ist gleichsam erkenntnis­theoretisc­her Natur: „Wir alle müssen den Menschen überwinden, der wir gestern waren“, sagt der Meister, den Jenny einst in seiner japanische Kampfkunst­schule in den Bergen Virginias aufsuchte.

Andreas Pflüger ist dergleiche­n gelungen. Er überwindet in „Geblendet“die Jenny Aaron der beiden ersten hochgelobt­en und vielfach verkauften Romane und dringt zu ihrem Wesenskern vor. Er ist nicht blind vor Liebe für seine schöne starke Superheldi­n, er sieht sie, wie sie ist: einsam, verzweifel­t, nicht bei sich.

Wir sind immer noch im Jahr 2016. Inzwischen ist Juni und Jenny nicht mehr bei der „Abteilung“, jener geheimen Berliner Spezialein­heit für besondere Aufgaben im kriminellp­olitischen Komplex, die zwar auf der hellen Seite der Macht steht, aber letztlich doch „hochgezüch­tete Maschinen“beschäftig­t. Killer eben.

Jenny hat sich auf Rügen in neuropsych­ologische Spezialthe­rapie begeben, um mittels Elektrosti­mulation ihren Sehnerv zu reanimiere­n. Es gibt Erfolge. Sie haben aber einen Preis. Jenny büßt die besonderen Fähigkeite­n ein, sich mittels Hör- und Geruchssin­n ganz sicher durch die Welt zu bewegen. „Als ich blind war, habe ich mehr gesehen als jetzt!“

Aber auch nicht alles. Pflüger spielt in der Erkenne-dichselbst-story erneut virtuos mit Metaphern des Sehens: blinder Ehrgeiz, blinde Wut, auch blindes Vertrauen.

Geblendet wurde Jenny durch einen Kopfschuss in Barcelona. Verblendet ist sie durch den geliebten Vater, der die GSG 9 anführte: ein „Mann, der aus seinem einzigen Kind eine perfekte Maschine gemacht hat“. Mit einer ebensolche­n Beziehung eines Vaters zu seiner zwölfjähri­gen Tochter beginnt der Roman. Eine finstere, traumatisc­he Initiation in Paris. Wer die anderen Bücher gelesen hat, wird hier Jennys Geschichte vermuten.

Es ist aber die von Malin, die Pflüger ihr hier gegenübers­tellt in wiederholt­en Spiegelung­en, wie Goethe sagen würde. Malin, die Auftragski­llerin, wird zur Gegenspiel­erin mit persönlich­en Motiven. In „Niemals“, dem Buch zuvor, jagte Jenny den Mörder ihres Vaters. Nun macht Malin die „Abteilung“für den Tod des ihrigen, eines Kriminelle­n, verantwort­lich und wird Teil einer Intrige, Jennys Kollegen nicht nur politisch unter Beschuss zu nehmen.

Jenny und Malin sind wie der weiße und der schwarze Schwan in Tschaikows­kys Ballett. Wer hier wen in welche Welt hinüberzie­ht, macht einen Großteil der Spannung aus. Zum Ende hin walzt Pflüger das Schwestern-bild vom Ich im Anderen etwas zu breit aus. Er schreibt auf, was wir längst herauslase­n.

Ansonsten besticht der Roman jedoch mit Sätzen und Szenen, die so zielgenau und treffsiche­r sind wie seine Protagonis­ten. Physiologi­sche wie psychologi­sche Recherchen überführt Pflüger mit poetischer Präzision in Literatur. Jenny und Malin beherrsche­n Kyūsho Jitsu: mit Handgriffe­n treffen sie die Vitalpunkt­e des menschlich­en Körpers. Pflüger trifft mit Worten ihre wunden Punkte.

Mit Humor trifft er auch. Über die Karriere einer durchtrieb­enen Bundeskanz­lerin Kirsten Fugger, die eine Jamaika-koalition führt, heißt es: „Wenn sie neben der damaligen Kanzlerin stand, sah man eine abgekämpft­e Seniorin mit ihrer jugendlich­en Betreuerin.“Und Pflüger, jahrzehnte­lang Drehbuchau­tor fürs Fernsehen, zuletzt für Weimars „Tatort“, tritt auch gleichsam selbst auf, als Jenny im Café sitzt. „Am Nebentisch sagt ein Autor: ,Der Regisseur hat mit meinem Drehbuch dasselbe gemacht wie Hitler mit Polen.‘“

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FOTO: MAIK SCHUCK Andreas Pflüger, aus Bad Langensalz­a stammend, im Saarland aufgewachs­en, kam am Mittwoch zur Buchpremie­re in die Thalia-buchhandlu­ng in Weimar.
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Andreas Pflüger: Geblendet. Suhrkamp Verlag,  Seiten,  Euro

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