Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Ich sehe was, was du nicht siehst
Andreas Pflüger sorgt im dritten Jenny-aaron-thriller mit wiederholten Spiegelungen für spannende Selbsterkenntnisse seiner Figur
Weimar. Damals, als Jenny noch sehen konnte, trat sie vor einen Spiegel und erkannte sich nicht mehr. „Plötzlich verwandelt sich ihr Spiegelbild in das einer anderen Frau.“Eine Zwillingsschwester vielleicht, jedenfalls aber nicht sie selbst.
Jetzt, da das Augenlicht zurückzukehren scheint, sieht ihr Spiegelbild irgendwie aus wie von Picasso gemalt. Andernorts schaut eine andere Frau in einen Spiegel: Malin, die auch einmal blind gewesen ist. „Wie jedes Mal ist sie sich bewusst, dass das Unsinn ist.“Denn Wahrheit ist darin nicht zu finden, nur dahinter.
„Wie willst du je erfahren/was hinter dem Spiegel ist/wenn du ihn nicht/ zerbrichst?“Diesen Vers stellt Andreas Pflüger seinem nunmehr dritten Thriller um die blinde Polizistin Jenny Aaron voran. In der Trilogie betrachtet, steuert er damit auf einen Showdown zu, der auf einem Schlachtfeld stattfindet, auf dem die Waffen schweigen müssen. Es ist der Showdown eines Machtkampfes mit dem eigenen Ich. Und er ist gleichsam erkenntnistheoretischer Natur: „Wir alle müssen den Menschen überwinden, der wir gestern waren“, sagt der Meister, den Jenny einst in seiner japanische Kampfkunstschule in den Bergen Virginias aufsuchte.
Andreas Pflüger ist dergleichen gelungen. Er überwindet in „Geblendet“die Jenny Aaron der beiden ersten hochgelobten und vielfach verkauften Romane und dringt zu ihrem Wesenskern vor. Er ist nicht blind vor Liebe für seine schöne starke Superheldin, er sieht sie, wie sie ist: einsam, verzweifelt, nicht bei sich.
Wir sind immer noch im Jahr 2016. Inzwischen ist Juni und Jenny nicht mehr bei der „Abteilung“, jener geheimen Berliner Spezialeinheit für besondere Aufgaben im kriminellpolitischen Komplex, die zwar auf der hellen Seite der Macht steht, aber letztlich doch „hochgezüchtete Maschinen“beschäftigt. Killer eben.
Jenny hat sich auf Rügen in neuropsychologische Spezialtherapie begeben, um mittels Elektrostimulation ihren Sehnerv zu reanimieren. Es gibt Erfolge. Sie haben aber einen Preis. Jenny büßt die besonderen Fähigkeiten ein, sich mittels Hör- und Geruchssinn ganz sicher durch die Welt zu bewegen. „Als ich blind war, habe ich mehr gesehen als jetzt!“
Aber auch nicht alles. Pflüger spielt in der Erkenne-dichselbst-story erneut virtuos mit Metaphern des Sehens: blinder Ehrgeiz, blinde Wut, auch blindes Vertrauen.
Geblendet wurde Jenny durch einen Kopfschuss in Barcelona. Verblendet ist sie durch den geliebten Vater, der die GSG 9 anführte: ein „Mann, der aus seinem einzigen Kind eine perfekte Maschine gemacht hat“. Mit einer ebensolchen Beziehung eines Vaters zu seiner zwölfjährigen Tochter beginnt der Roman. Eine finstere, traumatische Initiation in Paris. Wer die anderen Bücher gelesen hat, wird hier Jennys Geschichte vermuten.
Es ist aber die von Malin, die Pflüger ihr hier gegenüberstellt in wiederholten Spiegelungen, wie Goethe sagen würde. Malin, die Auftragskillerin, wird zur Gegenspielerin mit persönlichen Motiven. In „Niemals“, dem Buch zuvor, jagte Jenny den Mörder ihres Vaters. Nun macht Malin die „Abteilung“für den Tod des ihrigen, eines Kriminellen, verantwortlich und wird Teil einer Intrige, Jennys Kollegen nicht nur politisch unter Beschuss zu nehmen.
Jenny und Malin sind wie der weiße und der schwarze Schwan in Tschaikowskys Ballett. Wer hier wen in welche Welt hinüberzieht, macht einen Großteil der Spannung aus. Zum Ende hin walzt Pflüger das Schwestern-bild vom Ich im Anderen etwas zu breit aus. Er schreibt auf, was wir längst herauslasen.
Ansonsten besticht der Roman jedoch mit Sätzen und Szenen, die so zielgenau und treffsicher sind wie seine Protagonisten. Physiologische wie psychologische Recherchen überführt Pflüger mit poetischer Präzision in Literatur. Jenny und Malin beherrschen Kyūsho Jitsu: mit Handgriffen treffen sie die Vitalpunkte des menschlichen Körpers. Pflüger trifft mit Worten ihre wunden Punkte.
Mit Humor trifft er auch. Über die Karriere einer durchtriebenen Bundeskanzlerin Kirsten Fugger, die eine Jamaika-koalition führt, heißt es: „Wenn sie neben der damaligen Kanzlerin stand, sah man eine abgekämpfte Seniorin mit ihrer jugendlichen Betreuerin.“Und Pflüger, jahrzehntelang Drehbuchautor fürs Fernsehen, zuletzt für Weimars „Tatort“, tritt auch gleichsam selbst auf, als Jenny im Café sitzt. „Am Nebentisch sagt ein Autor: ,Der Regisseur hat mit meinem Drehbuch dasselbe gemacht wie Hitler mit Polen.‘“