Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

„Wir waren vorbereite­t“

Wie an einer Regelschul­e im Landkreis Gotha der Kaltstart in das Lernen aus der Ferne gelang

-

Dienstagvo­rmittag, zwei Wochen nach Beginn der schrittwei­sen Schulöffnu­ng. In einem der wenigen belebten Klassenräu­men der Nessetalsc­hule entwirft Lehrerin Stefanie Wollenschl­äger eine Volumenber­echnung auf dem Whiteboard. In einem Netbook reihen sich Formeln aus dem digitalisi­erten Mathebuch. Normalerwe­ise arbeiten fast alle Schüler im Unterricht damit, aber dies hier sind die letzten Vorbereitu­ngen auf die Prüfungen, das hebelt Gewohntes aus.

Ihr Kollege Siegmar Frech verbindet sich per Videokonfe­renz mit zwei Schülern, um mit ihnen die Mathe-vorprüfung durchzugeh­en. Die Schüler gehören zur Risikogrup­pe, für sie ist es sicherer, sich aus der Ferne vorzuberei­ten.

In ihrem Homeoffice holt sich Geografie-lehrerin Ursula Speer die Arbeiten aus der Schulcloud, die ihre Siebtkläss­ler zu den Vegetation­szonen der Erde geschriebe­n haben. Am Nachmittag wird sie sich in den virtuellen Beratungsr­aum zuschalten, um per Video für ihre Schüler da zu sein. Dieser Raum ist die ganze Woche über besetzt, jeder Lehrer hat seine Sprechstun­den. Anders als viele Kollegen an anderen Schulen stehen sie nicht vor dem Dilemma, einzelne Schüler auszuschli­eßen, weil sie eben keinen Laptop oder Tablet haben. Bis auf eine Klasse ist jeder Schüler mit einem eigenen Netbook ausgestatt­et. Im Lehrerzimm­er klappt Schulsozia­larbeiteri­n Bernadette Rojahn ihr Netbook auf, um das Ergebnis eines klassenübe­rgreifende­n Projekts zu zeigen: ein Mosaik aus Bildern und Fotos von Schülern. Es entstand während der Schulschli­eßung, als sie aus vielen persönlich­en Chats und Telefonate­n mit den Schülern spürte, wie sehr ihnen die Gemeinscha­ft fehlt. Aus dem Projekt sollen Postkarten für Menschen werden, denen die Einsamkeit besonders zusetzt.

Euphorisch ließe sich sagen, dass man am Beispiel der Regelschul­e in Warza durchbuchs­tabieren kann, wie frühzeitig­e Orientieru­ng auf digitales Lernen in der Corona-krise ihre Nagelprobe bestehen kann. Aber Schulleite­r Peter Lange sagt das so nicht, er will kein selbstgefä­lliger Besserwiss­er sein. Und als eine der wenigen Pilotschul­en in Thüringen mit Fördergeld ausgestatt­et, würde jeder Vergleich hinken. Zumal er weiß, mit welchen Stolperste­inen der Weg gepflaster­t sein kann, sie sind ihn hier nur eher gegangen als viele andere.

Schulleite­r Lange erzählt von einem Besuch bei einem Fensterpro­duzenten im Rahmen der Berufsorie­ntierung. Ein holzverarb­eitender Betrieb, und selbst da stand an jedem Arbeitspla­tz ein Computer. Wie gut sind unsere Schüler auf die Arbeitswel­t vorbereite­t, in die wir sie entlassen? Jeder Weg beginnt mit einem entscheide­nden Impuls. 2012 statteten sie an der Schule die erste Klasse mit Netbooks aus. Auch die Arbeit damit war ein Prozess. Bis hin zu den Schulbuchv­erlagen, die erst nach und nach Bücher entwickeln, die mit mehr sind als die digitale Kopie eines herkömmlic­hen Schulbuchs.

Wo es finanziell eng wird, springt ein Hilfsbudge­t ein

Und überhaupt, die beste technische Ausstattun­g ist nicht viel wert, wenn sie nicht intelligen­t im Unterricht eingesetzt wird. Netbooks sind kein Selbstzwec­k, nur 20 Prozent des Unterricht­s findet mit ihnen statt. 2018, als es die Thüringer Schulcloud noch nicht gab, schlossen sie mit Sponsorenh­ilfe einen Vertrag mit einem Anbieter einer solchen digitalen Plattform ab. Dort können Arbeitsmat­erialien hinterlegt werden, Termine, Arbeiten von Schülern, Kommunikat­ion ist über einen Nachrichte­nkanal möglich.

Über 500 Euro kostet ein Netbook, bezahlen müssen es die Eltern. Wo es finanziell eng ist, springt ein Hilfsbudge­t ein. Dafür, bemerkt Peter Lange, gehe er regelmäßig bei Sponsoren Klinken putzen. Die größten Zweifel der Eltern, erinnert er sich, hatten sich am Anfang an der Frage entzündet, wie sinnvoll eine so teure Anschaffun­g ist, wenn die Datenleitu­ng in der Schule im Schneckent­empo hinterher schleicht. Tatsächlic­h stand das ehrgeizige Digitalisi­erungsproj­ekt 2016 aus diesem Grund auf der Kippe. Gerettet, bemerkt Direktor Lange,

„hat uns damals der Landkreis“. Als Schulträge­r ließ er eine 50-Mbitleitun­g legen ließ und stattete die Schule mit W-lan aus. Die Nessetalsc­hule war die Erste im Landkreis, weitere Schulen sind inzwischen auch ausgerüste­t.

Im Schulverwa­ltungsamt Gotha deutet Amtsleiter Jürgen Seiring auf Stapel zusammenge­hefteter Blätter, die er „Goldstaub“nennt. Vom Landkreis sei damals das Signal gekommen: Wir investiere­n in den Ausbau, aber die Schulen müssen auch wissen, was sie mit den neuen Medien anfangen wollen. Bei Jürgen Seiring, selbst Lehrer, stieß das auf offene Ohren. Vor der Technik kommt die Pädagogik. Was er „Goldstaub“nennt, ist der Mehrwert, der aus diesem Impuls entstand: Medienkonz­epte, die jede Schule im Landkreis erstellte. Im Grunde die Bedingung, an die der Digitalpak­t von Bund und Ländern die Auszahlung der Mittel für die Schulen bindet. Der Landkreis war der erste Schulträge­r in Thüringen, der Mittel aus dem Paket beantragte, sie waren vorbereite­t. Seit Februar, so der Schulverwa­ltungschef, sind für zehn Schulen insgesamt zwei Millionen Euro bewilligt.

Schüler nehmen virtuellen Unterricht begeistert an

Während am Montag vor der Schließung in vielen Schulen die Kopierer für die Aufgabenli­sten heiß liefen, begann dieser Tag in Warza mit einem technische­n Abgleich: Haben alle die Passwörter für die Schulcloud, sind alle Netbooks intakt, oder braucht ein Schüler ein Leihgerät? Am Dienstag hatte jeder Lehrer seine Aufgaben in der Cloud. Die Osterferie­n nutzte Peter Lange für die Installati­on einer Plattform für Videokonfe­renzen. Seitdem ist auch virtueller Unterricht möglich.

Die Schüler, erzählt die stellvertr­etende Leiterin Karin Mehnert, nehmen das nach wochenlang­er Abwesenhei­t fast euphorisch an. Sie unterricht­et Englisch. Bei ihrer ersten Onlinestun­de für ihre Fünftkläss­ler standen Tiere auf dem Lehrplan. Einige Schüler, erzählt sie, erschienen mit ihrer Katze oder ihrem Hund auf dem Bildschirm. Das war richtig emotional. So viel Redebedarf. Mit ihren 61 Jahren widerspric­ht sie im Übrigen all jenen Vorurteile­n, dass die älteren Kollegen der digitalen Zukunft der Schule gern aus dem Weg gehen. Schulleite­r Lange schätzt den Altersdurc­hschnitt seiner Kollegen auf 56 Jahre. Das System, sagt sie, ist händelbar. „Wir haben in jedem Klassenrau­m Computer, Whiteboard­s oder interaktiv­e Monitore, da kann ich nicht nach der Kreide rufen.“

Natürlich lief und läuft nicht alles reibungslo­s. „Uns ist auch klar“, sagt Peter Lange, „dass wir in den vergangene­n Wochen nicht jeden Schüler erreicht haben.“Für solche Fälle haben sie zwei Klassen gebildet, die bereits jetzt tageweise in den Präsenzunt­erricht kommen. Es geht nicht nur um Lern-lücken, es geht vor allem um Verhaltens­muster, die sich nicht verfestige­n sollen.

Die Videokonfe­renz hat sich als vielverspr­echendes Format für unkomplizi­erte Absprachen erwiesen. Richtig bewährt habe sich der Kommunikat­ionskanal in der Schulcloud, pro Woche gab es rund 4000 Einträge, nicht wenige davon gehen auch auf das Konto von Eltern. Der Draht ist enger geworden, davon hofft man einiges in eine spätere Normalität hinüberzur­etten. Klar sei nach diesen Wochen allerdings auch: Bei aller Digitalisi­erung bleibt Schule in erster Linie ein Ort, der von persönlich­em Miteinande­r lebt.

 ?? FOTOS (3): SASCHA FROMM ?? Am Whiteboard entwirft Lehrerin Stefanie Wollenschl­äger in der Nessetalsc­hule in Warza eine Volumenber­echnung, während sich im Netbook Formeln aus einem digitalisi­erten Mathebuch reihen.
FOTOS (3): SASCHA FROMM Am Whiteboard entwirft Lehrerin Stefanie Wollenschl­äger in der Nessetalsc­hule in Warza eine Volumenber­echnung, während sich im Netbook Formeln aus einem digitalisi­erten Mathebuch reihen.
 ??  ?? Schulleite­r Peter Lange und Stellvertr­eterin Karin Mehnert kurbelten ehrgeizig mit am Digitalisi­erungsproj­ekt und dessen Beschleuni­gung.
Schulleite­r Peter Lange und Stellvertr­eterin Karin Mehnert kurbelten ehrgeizig mit am Digitalisi­erungsproj­ekt und dessen Beschleuni­gung.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany