Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
„Carlotta oder Die Lösung aller Probleme“von Klaus Jäger
Das Berlusconi-fernsehen brachte schon am frühen Morgen diverse Rate-shows, durch die sparsam gekleidete Blondinen führten, die sich zum Verwechseln ähnlich sahen. Laurenz Stadler hatte keine Ahnung, wohin diese systematische Verflachung des Programms, diese systematische Verblödung des Publikums noch führen würde. Die Privatsender des Berlusconi-konzerns wären ein guter Grund, Italien schnell zu verlassen und nie wiederzukehren. Doch Silvio Berlusconi, auch das war Laurenz klar, würde über kurz oder lang zumindest von der politischen Bildfläche verschwinden. Inwieweit der auch von der Mattscheibe verschwinden würde, stand auf einem ganz anderen Blatt.
Es gab da in der Tat Shows, die waren in aller Munde, er hatte jedoch erhebliche Probleme, dieses Phänomen zu begreifen. Ungeachtet seiner Einfühlungsgabe vermochte er sich das Dauerpublikum dieser Fernsehsender nicht vorzustellen. Möglicherweise sahen sie ja aus wie die Protagonisten der nachmittäglichen Talk- und Reality-sendungen im deutschen Privatfernsehen – Abziehbilder wirklicher Menschen.
Bei Carlotta hatte er seltsamerweise kein Problem, sich in ihre Welt hineinzuversetzen, trotz ihrer jugendlichen Ausstrahlung, die schon eine erhebliche natürliche Kluft zwischen ihnen bildete. Es machte ihm geradezu ein Vergnügen, wenn er abends auf dem Bett lag, sich als stiller Beobachter in ihre Wohnung zu träumen. In seiner Fantasie sah er sie abends nach ihrer Musik tanzen, vor der er sich noch vor Tagen gegruselt hätte. Sie würde barfuß tanzen, dessen war er sich sicher. Kurz vor dem Einschlafen sah er dann auch, wie sie sich auszog, ja, er begann, von ihrer Unterwäsche zu träumen, nachdem er diese über dem Saum ihrer Jeans gesehen hatte, und er wollte sich diese Träume kaum selbst eingestehen.
Eines Tages, er und Carlotta pflegten inzwischen schon einen recht vertrauten Umgangston, kam beim Frühstück der an seinen Tisch. Er schaute sich demonstrativ um, ob sie auch nicht belauscht werden würden, beugte sich dann vor und fragte im Flüsterton: „Sagen Sie, Signor Stadler, fühlen Sie sich durch unsere Carlotta belästigt?“
Stadler brauchte eine Weile, ehe er den Sinn der Frage erfasste, dann wehrte er ab. „Wo denken Sie hin, ich unterhalte mich prächtig mit der Kleinen.“
„Schön“, sagte der Wirt und machte eine vage Handbewegung. „Sie haben bei unserer Carlotta ja einen mächtigen Stein im Brett, Sie sind ein richtiger Glückspilz.“
Das bin ich wohl, dachte sich Stadler, zugleich ein wenig beunruhigt, weil das trauliche Verhältnis der beiden offensichtlich schon Gesprächsthema beim Personal war.
An diesem Nachmittag trug Carlotta einen engen schwarzen Minirock über ebenfalls schwarzen Nylons. Der Rock war so eng, dass sich Laurenz fragte, wie man in einem solchen Rock überhaupt noch richtig laufen konnte. Aber es sah teuflisch gut aus. Natürlich sah es gut aus. Irgendwie, so fand er, sah an ihr alles gut aus – sie hätte sich einen Müllsack überstülpen können, und Laurenz hätte es für fabelhaft gehalten. Er war klug genug, um die leichte Eintrübung seines Urteilsvermögens zu registrieren, dennoch nahm er sie hin wie einen leichten Weinrausch. Einfach ein netter Urlaubsflirt, sagte er sich. Und er beschloss, Carlotta bestimmt nicht mehr zu vergessen, wenn er wieder daheim im grauen Deutschland war. Sie bescherte ihm durch ihre bloße Anwesenheit gute Laune. Beim Kassieren stellte sie sich neben ihn, verschränkte die Arme auf dem Rücken und drehte sich kokett in der Hüfte.
„Sagen Sie, Signor Stadler“, fing sie an.
„Ja?“, fragte er aufmerksam und legte ihr einen Fünfer auf den Tisch. „Mögen Sie mich eigentlich?“„Was für eine Frage?“Stadler lachte. „Natürlich mag ich Sie. Ein Mädchen wie Sie muss man doch einfach mögen.“
„Dann habe ich eine große Bitte“, sagte sie feierlich.
„Ich höre.“
„Sagen Sie doch bitte Du zu mir.“Sie ging vor ihm in die Hocke und legte die Hand auf seinen linken Unterarm. Er spürte die Hitze, die von ihrer Hand ausstrahlte und ihn ganz gefangen nahm – die Wärme ihrer Haut schien förmlich in seine Blutbahn überzugehen.
Er legte seine Rechte auf ihre Hand, die davon vollständig bedeckt war.
„Aber nur, wenn Sie auch Du sagen“, ging er mit belegter Stimme auf ihre Bitte ein. „Ich bin Laurenz.“
„Ich weiß.“Sie kicherte leise. „Aber ich kann es nicht aussprechen. Darf ich Lorenzo zu Dir sagen?“
„Klar, ein Freund in Rom macht das seit Jahren so.“
Sie drückte seinen Unterarm mit ihrer kleinen Hand.
„Danke“, hauchte sie. Und wurde nicht einmal rot dabei.
Er hätte sie jetzt am liebsten geküsst. Und er erschrak kein bisschen bei diesem Gedanken. Auf der Treppe hinauf zu seinem Zimmer fühlte er sich federleicht.