Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Die medizinische Kraft der Blüten
Patrick R. leidet an Multipler Sklerose. Cannabis für mehr Lebensqualität musste er sich hart erkämpfen
Das Kapuzen-shirt wird oft gewaschen. Weil es Patrick R. gern trägt. „Es sieht cool aus und ist bequem“, begründet der 40-Jährige. Aber vor allem begeistere ihn die Aufschrift, die eindeutige Botschaft: „Schluss mit Krimi. Cannabis normal“, steht auf der Vorderseite geschrieben.
Er wohnt im Haus seiner Eltern in einem 500-Einwohner-ort im Landkreis Nordhausen. R. leidet an Multipler Sklerose (MS) – eine autoimmune, chronisch-entzündliche degenerierende Erkrankung mit unterschiedlichen Verlaufsformen. „Die Krankheit der 1000 Gesichter“wie seine Mutter bemerkt. Die einstige Kauffrau ist wie Ehemann Jürgen, ein ehemaliger Handwerker, mittlerweile in Rente. Das ist gut für Sohn Patrick, der auf viel Hilfe im Alltag angewiesen ist.
Schnelle Erschöpfung bemerkte er schon in der Lehre und bei der Bundeswehr. Die ersten Symptome – Kribbeln in den Beinen – spürte Patrick vor rund zehn Jahren.
Während der späteren Arbeit im Lager wurde die stetige Müdigkeit schlimmer, oft musste er sich setzen. Doch die Auszeiten fielen irgendwann auf und wurden von Vorgesetzten falsch – als Drücken beziehungsweise Faulheit – gedeutet. „Mediziner, die ich aufsuchte und der Ärztliche Dienst entgegneten dem nichts, sprachen ergänzend noch von Depressionen“, sagt Patrick R.
Er spürte aber, dass sein Körper aus anderen Gründen nicht wie gewünscht funktionierte. Nach einer „Ärzte-tortour“erhielt er 2011 schließlich die Ms-diagnose: Aus dem Nervenkanal der Wirbelsäule gezogenes Hinwasser erbrachte bei einer Lumbalpunktion einen eindeutigen Befund.
Die anschließende tägliche Behandlung erfolgte mit selbst gesetzten Spritzen – unter anderem Cortison – sowie Tabletten. Aber Besserung trat nicht ein. Im Gegenteil, sie hatte enorme Nebenwirkungen, Unruhe und Schmerzen nahmen zu. Die Nächte wurden für R. immer kürzer, die Tage immer anstrengender, die Schritte immer unsicherer. Zudem hörten Unterstellungen nicht auf, „der damals behandelnde Neurologe sprach davon, dass ich mich auf meiner Krankheit ausruhe.“Verzweifelt informierte sich R. im Internet über alternative Behandlungsmethoden, studierte Berichte
und stieß auf Medizinischen Cannabis, dessen heilsame Wirkung seit hunderten Jahren bekannt ist. Die Pflanze enthält hunderte Cannabinoide – die Botenstoffe greifen über Andockstellen im Nervenund Immunsystem in Regulationsmechanismen helfend ein. Ms-patienten berichteten von ihren guten Erfahrungen, nachdem der Staat 2017 den Konsum der Blüten bei Schmerzen legalisiert hatte.
„Doch meine damalige Krankenkasse sagte nur ja zur Standardtherapie mit Cannabisextrakten“, den Antrag auf Kostenübernahme für Blüten lehnte sie ab. Es folgte der Gang vors Sozialgericht sowie erneut zu zahlreichen Fach-ärzten. „Viele zeigten wenig Verständnis oder äußerten sich abfällig, indem sie mich mit einem Süchtigen gleichsetzten, der nur den schnellen Kick benötigt.“Patrick R. spricht von „schlimmen Schikanen“, die er in diesen Monaten voller Frust und Enttäuschungen erlebt hat. Fast zwei Jahre führte er mit der Familie einen stressigen Kampf vor Gericht, in dem ihm aber eine Niederlage drohte und der auch seinen körperlichen Zustand drastisch verschlechterte.
Glücklicherweise führte ihn sein Weg nach Mühlhausen ins Hainichklinikum. Dort traf er auf Menschen, die ihm endlich zuhörten, glaubten und helfen wollten. Zudem bekam er von einer Patientin den Tipp, die Krankenkasse zu wechseln. Ein Glücksfall. Von der AOK Plus Sachsen Thüringen erhielt Patrick R. 15 Tage nach Antragstellung durch seine Neurologin die Bestätigung der Kostenerstattung. Sie erlaubte die Einnahme
von Medizinal-cannabis-blüten. „Ich war so froh über diese Entscheidung“, blickt er auf jenen Tag im August 2018 zurück.
Seitdem inhaliert er etwa alle zwei Stunden wechselnde Sorten der Blüten, „denn noch bin ich in der Findungsphase, welche Kombinationen mir eine optimale Therapie ermöglichen.“Doch dass die Pflanze hilft, ist unstrittig: „Krämpfe, Muskelspasmen oder das unablässige Brennen der Haut haben nachgelassen. Ich kann nun mehrere Stunden schlafen, habe wieder Lust am Leben, kann an diesem zumindest begrenzt teilnehmen, wieder etwas laufen, auch wenn es nur etwa 200 Meter in Folge sind“, beschreibt Patrick die Veränderungen.
Die Krankheit kann durch Cannabis wohl kaum geheilt werden, aber die Einnahme verlangsamt den
Verlauf. „Sie ist mein Strohhalm des Lebens“, sagt Patrick R. Seine wirksame Medizin bezieht er monatlich für den eigenen Gebrauch aus der Online-apotheke.
Der nächste Schritt, für den er kämpft, ist der uneingeschränkte Zugang zu Cannabis als Medizin. Dies würde die Möglichkeit schaffen, dass Patienten diesen selbst mit Genehmigung der Ärzte anbauen dürfen. Eine Petition dafür ist im Umlauf, zirka 30.000 von 50.000 Unterschriften sind erfolgt. „Ich werde nicht müde, weiter dafür zu werben“.
Kürzlich hatte Patrick R. erneut einen Termin im Klinikum in Mühlhausen. Eine Konsultation für ein neues Rezept. „ich habe es erhalten, kann Cannabis nachbestellen“, sagt er lächelnd und streicht sich über das T-shirt, das er so gern trägt.