Thüringer Allgemeine (Nordhausen)
Miteinander reden, um zu verstehen
Neuer Weimarer Salon startet nach Coronapause mit Gespräch über Erfahrungen von Holocaust-überlebenden
Weimar. Normalerweise dringt aus den Räumen der Salons von Thomas Schmid nichts nach draußen. Inspiriert von den einstigen Tafelrunden der Weimarer Herzogin Anna Amalia, sollen die Geladenen aus Politik, Wirtschaft, Medien, Religion, Justiz und Alltag Gedanken und Meinungen austauschen können, ohne das Mikrofone auf sie gerichtet sind oder Kameras klicken. Beim Neuen Weimarer Salon, dem ersten nach langer Lockdown-zeit, ist erstmals alles anders. Gemeinsam mit dem Intendanten der gerade gestarteten Thüringer Achavafestspiele, Martin Kranz, hat der Gastgeber die vier Holocaust-überlebenden Eva Stocker, Eva Fahidipusztai, Pavel Taussig und Andor Andrási in den Kaminsaal des Weimarer Hotels Elephant eingeladen. Er sei dankbar dafür, die Hochbetagten begrüßen zu dürfen, sagt Schmid. Der Abend gehöre allein ihnen. Alle anderen am Tisch, zu denen auch Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) zählt, sind vor allem in der Rolle der Zuhörenden und Fragenden.
Zwischen Schmid und Ramelow hat Eva Stocker Platz genommen. Die Nazis haben ihr ihre Identität genommen, sagt sie. Vermutlich war sie von ihrer Mutter auf dem Bahnhof in Kosice aus dem Fenster eines Deportationszuges nach Auschwitz herausgereicht worden und später von einer Adoptivfamilie übernommen worden. Was ihr das Leben rettete, war der Beginn einer lebenslangen Suche nach dem eigenen Ich. Mit 18 entdeckte sie einen Schuhkarton, darin Hinweise auf ihre mögliche Herkunft. Für ein Langzeit-filmprojekt spricht sie seit Jahren mit Überlebenden der Shoa über den Alltag nach dem Holocaust. Sie wolle zeigen, wie sie es schafften, neu anzufangen. Einige ihrer Dokumentationen mit Titeln wie „Der Krieg gegen die Juden“oder „Das 2. Leben“werden derzeit in Thüringer Schulen gezeigt.
Die gebürtige Ungarin Eva Fahidi-pusztai überlebte als einzige ihrer Familie das Vernichtungslager in Auschwitz. Ihre Geschichte von der „5er Reihe“hat sie schon oft erzählt, immer wieder bewegt sie die Zuhörer. Pusztai war 18, als sie in Auschwitz mit vier Mädchen einen Bund für das Überleben schmiedete. Sie standen füreinander ein, teilten das wenige, was es gab. Gemeinsam wurden sie nach sechs Wochen ins Arbeitslager von Stadtallendorf verlegt. „Der Zusammenhalt hat uns gerettet“, sagt sie. Nach der Befreiung
behielt sie ihre Erlebnisse lange für sich. Als man Ende der 1980er im hessischen Stadtallendorf wieder an das Lager von einst zu erinnern begann, war sie vor Ort. Seitdem ist sie unermüdlich unterwegs. Sie hält Vorträge, gibt Interviews, tanzt. Besonders still wird es im Salon, als sie von ihrer Betroffenheit über fehlendes Interesse bei den Enkeln berichtet.
Es ist ein ruhiges und nachdenkliches Rundtisch-gespräch. Bodo Ramelow, erzählt vom Verschwinden und Verschweigen der Lager im Westen und der in den 1980ern von Bundespräsident Richard von Weizsäcker ausgelösten Rückbesinnung, die seinerzeit gegen den Widerstand vieler Älterer bei Schülern auf Widerhall gestoßen sei. Man spricht über den einseitigen Antifaschismus in der DDR, der Verbrechen wie die Kindereuthanasie ausblendete, über Rechtsextremismus und Antisemitismus und die Schwierigkeiten, mit Rechten ins Gespräch zu kommen. Eindringlich plädiert Eva Pusztai dafür, mit allen zu reden, um zu verstehen, was sie antreibt.
Das findet auch Pavel Taussig. Auch er überlebte Auschwitz und war elf, als er 1945 nach mehreren Todesmärschen aus dem KZ Gunskirchen befreit wurde. Lebensbedrohlich an Tuberkulose erkrankt, brachte man ihn in ein Sanatorium, wo er – wie er in Weimar erzählt – seine kindlichen Erinnerungen in Tagebüchern festhielt. Nach dem Krieg arbeitete er in Bratislava für eine Satire-zeitschrift, bis ihn die Niederschlagung des Prager Frühling aus der ČSSR vertrieb. In Frankfurt am Main schrieb er für „Titanic“und „Pardon“. Als er sein Tagebuch seinem elfjährigen Sohn zum Geschenk machte, habe dieser verständnislos reagiert. Das Interesse
sei erst später gewachsen. Wie damit umgehen, und wie erzählen wir unseren Kindern, was eine Scheibe Brot bedeuten kann, wenn man Hunger leidet, fragt er die Runde? Inzwischen gebe es ein autobiografisches Buch, seine Nachfahren haben daran mitgearbeitet.
Nachlesen kann man heute auch die Geschichte des ungarischen Geistlichen Gábor Sztehlo und seiner Kinderrepublik „Gaudiopolis“. Andor Andrási hat sie als Kind und Shoa-überlebender miterlebt. Als die Nazis 1944 mit der Deportation Hunderttausender ungarischer Juden begannen, suchte Sztehlo Verstecke und rettete so fast 2000 Kindern, die teils durch Schnelltaufen zu Mitgliedern der lutherischen Kirche gemacht wurden, das Leben. Nach dem Krieg waren viele elternlos. Sztehlo habe eine Villa besetzt und Gaudiopolis, die Stadt der Freude, gegründet. Andrási war zwölf, als er im November 1945 dazukam. Sein Vater war als Zwangsarbeiter beim Minenräumen an der russischen Front getötet worden, seine Mutter war zu krank, um ihre Kinder gut versorgen zu können. Aufgenommen wurden Hilfsbedürftige unabhängig von ihrer Konfession. In der Kinderrepublik hätten sie ihre Geschicke in eigene Hände genommen, Lebensmittel organisiert, Kleidung repariert und Kleinigkeiten verkauft. Es sei ein Spiel gewesen, gleichzeitig hätten sie fürs Leben gelernt, sagt Andrási.
Nach drei Stunden geht der besondere Salon zu Ende. Die Zeitzeugen werden am nächsten Tag wieder in Schulen sprechen. Den Schüler-wettbewerb, den Richard von Weizsäcker Anfang der 1980er zur Erinnerung an die Shoa ins Leben rief, gibt es heute noch, weiß Bodo Ramelow. Von über 900 Schulen beteiligen sich in Thüringen 13.