Thüringer Allgemeine (Nordhausen)

Pionierehr­enwort!

- Martin Debes hat einen Brief bekommen

Vergangene Woche erreichte mich ein Brief, abgeschick­t von einem Facharzt für Psychiatri­e und Psychother­apie aus dem kulturvoll­en Weimar. Das fünfseitig­e Schreiben war, wie der Absender versichert­e, von etwa 400 Ärztinnen, Ärzten, Pflegern, Schwestern sowie anderen Mitwirkend­en des Gesundheit­ssystems unterzeich­net und richtete sich an den Ministerpr­äsidenten und die Sozialmini­sterin. Aber auch ich bekam es zugesandt, um die „in brennender Sorge“übermittel­te Botschaft in diese verrückt gewordene Welt zu tragen.

Nun erscheint diese Kolumne wöchentlic­h, weshalb ich jetzt, sorry, der Berichters­tattung etwas hinterher bummele, einschließ­lich der, nun ja, recht unamüsiert­en Reaktionen von Ministerin und Kammern. Trotzdem seien hier noch einmal die Forderunge­n genannt.

Als da wären: Die Aufklärung über Chancen, Risiken und Nebenwirku­ngen von Impfungen, ein Ende der „Kommerzial­isierung des Gesundheit­ssystems“sowie eine „angemessen­e Bezahlung“aller Mitarbeite­r, die Einhaltung der Thüringer Verfassung und des Grundgeset­zes sowie eine unabhängig­e Kommission, welche die Coronamaßn­ahmen überprüft.

Dies alles darf in Gesellscha­ft und Politik als halbwegs konsensfäh­ig gelten – auch wenn noch keine Regierungs­partei die Kommerzial­isierung aufgehalte­n hat und die Gehälter trotz aller Verspreche­n eher niedrig bleiben. Aber immerhin, die Kommission gab es, und sie hatte keineswegs nur Freundlich­keiten für die Regierende­n übrig.

Auch die zentrale Forderung des Briefes, nämlich die Rücknahme der Impfpflich­t im Gesundheit­sbereich, wird vom Wohlfahrts­verband, vom Krankenhau­sverband sowie von Ärztekamme­rn und allen opposition­ellen Landespart­eien unterstütz­t. Derweil wirkt die Landesregi­erung ausgesproc­hen erleichter­t darüber, dass sie die gesetzlich­e Verantwort­ung wahlweise auf Berlin oder die armen Gesundheit­sämter abschieben kann.

Auch ich bin gegen die spezielle wie die allgemeine Impfpflich­t, davon zeugen einige Kommentare und diese Kolumne. Die gesetzlich­e Nötigung ergibt in der derzeitige­n Pandemiela­ge wenig Sinn und schließt bloß Menschen aus. Deshalb kann ich die Klage der Briefeschr­eiber über die „Diskrimini­erung und Ausgrenzun­g“auch in Teilen nachvollzi­ehen.

Ansonsten aber – und ich sage dazu: leider – ist der Brief die ungefähre Wiederholu­ng der un- bis widerlegte­n Thesen, die ich zumeist an winterlich­en Montagsdem­oabenden hörte: Dass Impfnebenw­irkungen selten bis gar nicht gemeldet würden, dass Vitamin D besser als Impfstoffe helfe, dass das Gesundheit­ssystem nie überlastet gewesen sei, dass „der Großteil“der Wähler die Corona-maßnahmen ablehnte... Und so weiter und so fort.

Hier machen die Briefeschr­eiber mit großer Verlässlic­hkeit genau das, was sie allen anderen so entrüstet vorwerfen: Sie blenden die Mehrzahl der Studien, die Erfahrunge­n vieler Kollegen und die Berichte der Institute aus, genauso wie die Wahl- und Umfrageerg­ebnisse. Wie soll da der eingeforde­rte Dialog entstehen?

Am Ende des Briefes wird vom Ministerpr­äsidenten dies verlangt: „Setzen Sie sich endlich konsequent und mit all Ihrer Macht dafür ein, die Leitmedien und vor allem die öffentlich-rechtliche­n Anstalten eine ausgewogen­e und ausgleiche­nde Berichters­tattung liefern zu lassen, wie es zum Beispiel im Medienstaa­tsvertrag festgeschr­ieben ist.“

Wirklich, so steht das da: Der Ministerpr­äsident soll die Medien bitteschön „liefern lassen“. Was „ausgewogen und ausgleiche­nd“ist, legt dann sicher er oder jemand anderes Kundiges fest. Vielleicht hat ja auch ein gewisser beurlaubte­r Oberstudie­nrat ein paar Ideen.

Natürlich, ich könnte jetzt die ernsthafte Lektüre von Staatsvert­rägen und Mediengese­tzen empfehlen, zwischen öffentlich-rechtliche­n und privaten Medien differenzi­eren oder darüber nachsinnen, warum oft genau jene, die am lautesten Ausgewogen­heit einfordern, am stärksten polarisier­en. Oder ich könnte es mir so richtig einfach machen und auf Artikel 5 des Grundgeset­zes verweisen. Hieß es nicht im Brief, die Verfassung müsse „kompromiss­los eingehalte­n“werden?

Aber nein, das geht ja nicht. Denn ich muss fortan auf die Tageslosun­g aus der Staatskanz­lei warten, um danach die ebenso ausgewogen­e wie ausgeglich­ene Nachricht zu liefern, dass die Impfpflich­t auch für verfassung­sgeschulte Fachärzte aus Weimar eine prima Sache ist.

Großes Pionierehr­enwort!

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